— Wann fing Ihr selbstständiges Leben an?
— Ich bin ein Produkt der sexuellen Revolution, meine Mutter war früher ein Hippie, die ihren Weg zur natürlichen Reinheit durch Liebe und Pazifismus suchte. Ich habe ihren Freiheitsdrang geerbt. Von meinem Vater habe ich eine gewisse konservative Haltung übernommen. Nach der Schule habe ich mich für eine Stelle bei der Polizeiakademie beworben, wurde dort angenommen, nach drei Jahren machte ich meinen Abschluss zum Kommissar. Fünf Jahre lang war ich im Außendienst tätig, wir haben das Territorium mit dem Hubschrauber kontrolliert. Ich saß am Steuer und bestimmte die Route, ich wollte auch selbst fliegen und einen Pilotenschein machen, aber es hat nicht funktioniert. Für einen Polizisten war ich zu „Hippie“. Eines Tages wollte ich daher nicht nur meinen Beruf aufgeben, sondern auch das Land verlassen.
— Und wo fuhren Sie hin?
— Es war die Zeit des Internet-Booms. Ich verkaufte mein Auto, meinen Computer, meine Disc-Kollektion, meine DJ-Ausrüstung, meine Mischpults und ging nach New York. Dort eröffnete ich schon nach kurzer Zeit eine Agentur für Webdesign. Danach leitete ich bei dem Unternehmen Euro RSCG die Internet-Abteilung. Nach sechs Jahren verdiente ich bereits 10.000 US Dollar pro Monat. Wir hatten solche Großkunden wie Intel und Volvo. Es waren millionenschwere Aufträge. Aber alles war schlagartig vorbei am 11. September 2001, als die beiden Türme des World Trade Center angegriffen wurden. Eswar der Anfang einer wirtschaftlichen Rezession. Wir hatten keine Aufträge mehr. Als mein Geld knapp wurde, siedelte ich nach Spanien über, wo ich als stellvertretender Direktor in einer Firma für den IT-Service zuständig war. Die ganze Zeit über war ich mit meiner Selbstbildung beschäftigt.
— Wie kamen Sie nach Russland?
— Mich lud ein guter Freund, ein Investmentbanker, ein. Ich hatte ihn in New York kennengelernt. Nach der Wirtschaftskrise kehrte er nach Moskau zurück. Er rief mich einfach eines Tagen an und meinte, ich sollte mal nach Russland kommen. Zuerst mochte ich Moskau überhaupt nicht. Ich kam im Oktober aus dem sonnigen Spanien in eine Stadt mit Schneeregen. Die Stadt schien mir ungemütlich, und die Menschen unfreundlich. Zuerst wohnte ich bei diesem Freund. Er bewegte sich in Moskau nur im Auto und mit Personalschutz. Er meinte immer: „Lauf durch die Stadt nicht zu Fuß, das ist sehr gefährlich“. Nach zwei Wochen wagte ich mich doch zu Fuß allein nach draußen, und es passierte nichts Schlimmes! Meine Ängste fand ich plötzlich lächerlich. Und bald fand ich neue Freunde.
— Existiert in Russland eine besondere Einstellung zu Freundschaft?
— Es ist nicht einfach, in Russland seinen Seelenverwandten zu finden, aber wenn man diesen gefunden hat, dann wird es eine lange und feste Beziehung sein. In Russland sind Freunde wie Verwandte, die dir in jeder Lage helfen. Nach vier Monaten in Moskau habe ich eine interaktive Agentur gegründet, „Cygen“. Das kostete mich 10.000 US Dollar. Meine Freunde haben mir dabei geholfen, die Steuererklärung auszufüllen, und sie haben mir Grundsätzliches zu den russischen Gesetzen erklärt. Diese haben keine Ähnlichkeit mit denen in Amerika, Spanien oder in Deutschland. Dafür haben sie von mir absolut kein Geld verlangt. Schön war es außerdem, dass unsere Firma keine neuen Partner suchen musste – die hatten wir schon! Wir haben auch unsere Entwicklungen aus New York verwenden können. Und wir hatten Kunden aus der ganzen Welt: Volvo USA, MCI Worldcom, Red Bull, Vitaminshoppe, New Balance, Schering Plough, TBWA und Saatchi & Saatchi. Es lohnt sich, ein solches Unternehmen in Russland zu führen, weil die Arbeitskräfte hier etwas billiger sind.
— Was brachte Ihnen Ihr Musik-Hobby? Sie sind doch immer wieder mal als DJ aufgetreten, oder?
— DJ zu sein ist mein Hobby. Doch dieses Hobby bringt nebenbei auch noch Geld ein. Ich arbeite immer noch ein paar Mal in der Woche als Dj Two-Zero, weil ich das gerne tue. Für einen Abend bekomme ich ca. fünf bis sechs Tausend Rubel.
— Und weshalb haben Sie Ihre Agentur „Cygen“ aufgegeben?
— Mit unserem Unternehmen für Design haben wir immer weniger Gewinne machen können. Die Mitarbeiter wollten ein gutes Gehalt, teure Autos haben und in exquisiten Clubs feiern. So mussten wir uns leider von ihnen trennen. Dann habe ich 2008 mit meinem guten Freund aus Amerika beschlossen, die Werbeagentur „Kollektiv“ zu eröffnen. Hinzu kam noch einrussischer Programmierer. Doch dann heiratete mein amerikanischer Geschäftspartner eine Deutsche und ging mit ihr nach Amerika. Der russische Programmierer wollte seinerseits gutes Geld verdienen, hat sich dabei aber zu wenig um seine Aufgaben gekümmert. Wir haben uns dann im Guten getrennt, und ich habe ihm eine angemessene Abfindung gezahlt. So blieb ich zum Schluss der einzige Inhaber einer Firma, die „Kollektiv“ hieß. Ich habe dann zwei 23-jährige MGU-Absolventen eingestellt. Im Jahre 2012 konnte ich ihnen keinen Lohn bezahlen, aber sie meinten nur: „ Wir sind doch ein Team! Wir arbeiten eine Zeit lang umsonst, wenn du dann wieder Geld hast, wirst du deine Schuld begleichen.“ Zwei Monate später ging es dann mit unserem Unternehmen bergauf, und ich meinte: „Ihr habt mir in einer schweren Zeit beigestanden, so seid doch meine Geschäftspartner!“ So wurden es plötzlich wieder drei Inhaber des Unternehmens „Kollektiv“. Später wollte einer der Inhaber sein eigenes Businessprojekt starten und verließ unser Unternehmen. Heute sind wir im „Kollektiv“ zu zweit und beschäftigen noch drei Mitarbeiter.
Ich bin überzeugt, dass die Werbeagenturen in Russland sehr gute kreative Ideen haben. Allerdings haben die Kunden häufig nicht genug Mumm, diese kreativen Ideen verwirklichen zu lassen. Jeder wünscht sich etwas Ungewöhnliches, doch wenn es dann etwas konkreter wird, entscheiden sich die Kunden doch oft für eine eher konservativere Variante. Deswegen merkt man von den meisten wirklich kreativen Ideen häufig nichts.
Russland hatte meiner Meinung nach noch nie Probleme mit irgendwelchen kreativen Ideen, dafür aber mit ihrer qualitativen Umsetzung.
In einer Krisensituation würde ich nicht empfehlen, eine Agentur ohne genügende Investitionen für Gehälter von mindestens fünf Mitarbeitern und für Büroausgaben für die nächsten eineinhalb Jahren zu eröffnen. Zurzeit herrschen schwierige Zeiten, und bevor Sie Ihren ersten Wettbewerb gewinnen und Ihr Projekt realisieren können, das sich noch auszahlen muss, wird nicht weniger als ein halbes Jahr vergehen.
Der russische Markt bringt ein großes Potenzial für die Entwicklung des Kreativsektors für Dienstleistungen und Produkte mit sich. Allerdings werden die Kuchenstücke immer kleiner, und die Spielregeln immer härter. Die Eröffnung einer Kreativagentur in Moskau hat seine Vor- und Nachteile. Es ist nicht besonders schwer, einen bezahlbaren Büroraum und gute Mitarbeiter zu finden. Viel schwieriger ist es, Kunden zu gewinnen, besonders für ausländische Unternehmen.
— Wie viel verdienen Ihre Mitarbeiter?
— Zwischen anderthalb und zwei Tausend US Dollar. Ich hätte ihnen auch mehr bezahlt, aber wir haben viele Ausgaben. Zum Beispiel bei unserem Projekt mit Volkswagen, für das wir eine Video-Werbung gemacht haben. Der Herstellungsprozess eines Mediaprodukts ist ziemlich arbeitsintensiv. Man muss mehrere Leute bezahlen: den Kreativdirektor, der ein originelles Drehbuch vorlegt, den Autor, der den Text verfasst, und den Regisseur, der die Projektleitung übernimmt. In einem solch umfangreichen Projekt können bis zu 45 Personen beschäftigt werden; einige werden von der Produktionsfirma, und andere von uns gestellt.
— Wo befindet sich Ihr Büro?
— In einem Kellerraum in der Nähe der Metrostation „Frunsenskaja“. Die Räumlichkeiten sind natürlich mehr als bescheiden, ich kann daher keine Kunden zu mir einladen. Ich besuche meine Kunden lieber selbst. Wir müssen jetzt sparen. Früher befand sich unser Büro dagegen auf der Twerskaja, wir hatten es zusammen mit einer anderen Firma gemietet.
— Wie hoch ist Ihre Miete?
— Für einen Raum von 50 m2 bezahlen wir zurzeit zwei Tausend US Dollar monatlich. In Deutschland hätte man für einen entsprechenden Raum nicht mehr als 500 Euro zahlen müssen. Moskau ist halt eine sehr teure Stadt.
— Wie wirkte sich die Krise, die durch die Sanktionen hervorgerufen wurde, auf Ihr Business aus?
— Am Ende des vergangenen Jahres hatten wir 30% weniger Aufträge. Der Januar verlief ganz gut, aber im Februar und März mussten wir uns sehr anstrengen, um keine Verluste zu erleiden. In Russland wird das Honorar sehr schnell bezahlt, im Unterschied zu den USA oder zu Deutschland, wo man auf sein Geld auch mal drei Monate warten muss. Zurzeit haben wire inen Großkunden, den Flughafen Domodedowo. Wir machen für ihn Werbebroschüren und andere Druckerzeugnisse.
— Wie haben Sie Russisch gelernt?
— Ich habe Nachhilfe bei einem MGU-Professor bekommen. Das war ziemlich teuer, aber es hat sich gelohnt. Dabei wurde mir nicht einfach die russische Sprache beigebracht, sondern der semantische Unterschied zwischen den einzelnen Wörtern sowie historische und kulturelle Besonderheiten erklärt. Ich habe erst vor Kurzem, etwa vor drei Jahren, angefangen, Russisch zu lernen. Ich habe geheiratet und mir wurde klar, dass ich in Russland für längere Zeit bleiben werde.
In den letzten fünf Jahren nahm der Werbemarkt Russlands sowohl quantitativ als auch qualitativ zu. NachletztenAngabenbeträgtseinVolumen340 Mrd. Rubel. Nach den Ergebnissen des letzten Jahres gehört Russland zu den größten fünf Werbemärkten Europas, und weltweit belegt es Platz elf. Die Qualitätssteigerung bei den Kreativ-Erzeugnissen wird durch die wachsende Anzahl von internationalen Preisen auf solchen angesehenen Festivals wie Cannes Lions, Clio, Eurobest u.a. bestätigt. Letztes Jahr bekam Russland zum ersten Mal den Grand Prix auf dem Festival Cannes Lions in der Kategorie „Innovation“ verliehen. Auf dem Kreativmarkt Russlands gibt es genug Leute, die bereit sind, die Industrie mit ihren Produkten weiter zu fördern, trotz einer zurzeit nicht ganz einfachen ökonomischen Situation. Gerade in der heutigen Zeit können die Kreativ-Agenturen mit ihrer qualitativen, klaren und optimistischen Werbung dem Kunden helfen, mit seinem Businessprojekt erfolgreicher zu werden und somit die russische Wirtschaft im Ganzen zu stärken.
— Was hat Sie dazu gebracht?
— Meine Heirat. Meine Frau Elisaweta ist Schauspielerin und 20 Jahre jünger als ich. Wir haben uns auch bei der Produktion eines Kurzfilms kennengelernt. Dort handelte es sich um einen Deutschen, der ein russisches Mädchen kennenlernt. Der russische Regisseur und Drehbuchautor Nikolaj Homeriki war auf der Suche nach einem „echten“ Deutschen und fand mich. Ich spielte in seinem Film die Hauptrolle. Dabei arbeitete ich nicht fürs Geld, sondern der Freundschaft wegen. Lisa hatte eine Nebenrolle, und wurde im echten Leben meine Ehefrau. Sie möchte Russland auf keinen Fall verlassen, sie ist sehr heimatverbunden. Hier hat sie ihre Eltern und ihre Karriere, die gerade sehr gut anläuft, trotz ihrer zeitintensiven Rolle als Mama für unsere kleine Tochter Charlotte. Im Moment ist Lisa bei einer Fernsehserie beschäftigt, die bei dem bedeutendsten staatlichen Fernsehkanal läuft.
— Wohnen Sie zur Miete?
— Ja, wir mieten eine Wohnung im Zentrum Moskaus, für 40 m2 bezahlen wir 66.000 Rubel. Es ist zwar eine kleine Wohnung, aber sie befindet sich in einem sogenannten „Stalin-Bau“ und wurde neu renoviert.
— Inwieweit unterscheiden sich Deutsche und Russen in ihrer Mentalität?
— Während meiner Zeit als Unternehmer wurde mir klar, dass die Russen ein eher südländisches Temperament besitzen, ähnlich wie die Italiener. Um einen Deutschen zum Schreien zu bringen, muss man sich schon viel Mühe geben. Der Russe dagegen wird viel schneller „wild“ und schreit darauf los. Einerseits finde ich es unschön, weil es unnötig viel Kraft kostet, obwohl man eine bestimmte Frage auch ruhig klären könnte. Andererseits ist es eine Art emotionale Befreiung, man ist offen und hat keinen „doppelten Boden“.
— Sie sind bereits seit zwölf Jahren in Russland, wie haben sich in dieser Zeit die Russen verändert?
— Haben Sie Ihre Lieblingsplätze in Moskau?
— Ich liebe zum Beispiel das Nowodewitschi-Kloster, vor allem bei Sonnenuntergang. Es gibt dort viele grüne Alleen. Ich nehme oft mein Skateboard oder meine Tennisschläger mit. Ich mag auch die Bars in Moskau, die in den oberen Hotelstockwerken liegen. Moskau ist eine Stadt, wo dir immer etwas deine Aussicht verdeckt. Von den Skyscrapern kann man daher ein schönes Stadtpanorama genießen. Ich bestelle mir Bier oder Whiskey und genieße die Aussicht auf Moskau und die landenden Flugzeuge.
— Lohnt es sich, während der Krise der Arbeit wegen nach Moskau zu kommen?
— Meine Oligarchen-Kunden meinen, im kalten Wasser gibt es die größten Fische. Ich glaube, es lohnt sich, dieses Risiko einzugehen!