— Sie stammen aus der Stadt Ivrea. Was ist das für eine Stadt?
— Ivrea ist eine kleine Stadt zwischen Turin und den Bergen. Es ist dadurch bekannt, dass sich dort das Hauptquartier von Olivetti befindet. Dieses gibt es so nicht mehr, sodass man sagen kann, dass die Krise in meiner Stadt schon lange vorher begonnen hat, ehe sie das ganze Land erfasst hat. Eine Arbeit zu finden, sich eine Zukunft aufzubauen, ist bei uns sehr schwer. Dafür haben wir, wie in ganz Italien, eine sehr schöne Natur. Hier in Moskau vermisse ich vor allem die italienische Natur und die saubere Luft. Zwei- bis dreimal im Jahr fliege ich nach Hause. Doch ich liebe auch Moskau. Hier wird es nie langweilig, die Zeit fliegt wahnsinnig schnell. So wie hier alles sehr geschäftig ist und sehr schnell läuft. Und viele Menschen gibt es hier. Das gefällt mir.
— Wann und wie sind Sie hier her gekommen?
— Das war im Mai 2013. Wegen einer Frau. Ich wollte mit ihr etwas Ernsthaftes aufbauen, doch es funktionierte nicht. Nachdem wir sieben oder acht Monate zusammen gewohnt hatten, trennten wir uns. Doch ich entschied, in Moskau zu bleiben. Zu dieser Zeit hatte ich bereits Arbeit.
Nach Moskau ist er im Mai 2013 gekommen. Nach drei Monaten, er hatte sich kaum ein Mindestmaß an Russischkenntnissen angeeignet, begann er, Italienisch zu unterrichten. Heute macht er das beruflich an der Moskauer Sprachenschule BigWig. Zudem ist er Verkäufer bei Don Giulio Salumeria, einem Geschäft für italienische Produkte.
— Was haben Sie in Italien gemacht?
— Oh, vieles. Ich habe als Fotograf gearbeitet. Dann noch als Kellner, Journalist, sogar als Zahntechniker, doch habe ich nur wenig verdient. In Italien eine gute Arbeit zu finden, ist sehr schwer. Und ich verstand, dass ich gehen musste.
— Wie haben Sie hier die erste Zeit gelebt? In einem unbekannten Land, ohne Sprachkenntnisse?
— Anfangs habe ich bei den Eltern meiner Freundin gewohnt. Doch nach der Trennung nahm ich mir eine Wohnung. Da konnte ich schon Russisch. Nicht so wie jetzt, doch konnte ich sagen, was ich wollte. Dann bin ich umgezogen. Heute wohne ich auch wieder zur Miete, mit meiner jetzigen Freundin. Mehr als ein Jahr arbeite ich jetzt in dem Geschäft Don Giulio Salumeria auf der Pokowka-Straße. Und mehr als ein Jahr gebe ich bereits Italienischunterricht.
— Haben Sie eine pädagogische Ausbildung?
— Ich habe eine literarische Ausbildung. Ich habe das Lyzeum in Ivrea absolviert und habe dann ein Jahr an der Universität studiert, das dann aber aufgegeben. Ich wollte arbeiten, und das Studium war nicht leicht. Doch habe ich bereits im Lyzeum viel gelernt. Latein zum Beispiel. Selbst für einen Italiener ist diese Sprache nicht leicht zu lernen. Sie hat, wie das Russische auch, Fälle; das Italienische nicht.
Anfangs habe ich selbst Unterricht im Unterrichten bei einem Italiener genommen. Er hat mir viele Prinzipien und Feinheiten beigebracht. Schon nach dem vierten Monat meines Aufenthalts in Moskau, als ich mir ein wenig Russisch angeeignet hatte, begann ich, Italienisch zu unterrichten.
— Heute sprechen Sie ausgezeichnet Russisch. Haben Sie nie versucht, als Synchronübersetzer zu arbeiten? Da verdient man nicht schlecht.
— Ich glaube, dafür bin ich noch nicht soweit. Da muss ich das Russische noch ein wenig festzurren.
— Wie haben Sie Russisch gelernt?
— Bei einem Lehrer. Er ist selbst Russe, doch spricht er ausgezeichnet Italienisch. Das hat sehr geholfen. Ich habe die Meinung gehört, dass es für einen Lehrer seiner Sprache nicht unbedingt notwendig sei, dass er die Sprache auch des Landes beherrscht, wo er unterrichtet. Ich sehe das anders, denn es ist manchmal notwendig, etwas aus der Grammatik oder andere Feinheiten zu erklären.
— War es schwierig, Schüler zu finden?
— Über die Seite avito.ru habe ich die ersten beiden gefunden. Dann sind bereits Bekannte von Bekannten aufgetaucht, man hat mich weiter empfohlen, Mundpropaganda. Schüler zu finden, ist kein so großes Problem, weil Italien hier sehr beliebt ist. Nicht nur seine Sprache, sondern auch die italienische Mode, Italiens Essen und seine Möbel. Und die Italiener selbst auch.
— Was bewegt die Schüler in der Regel? Brauchen Sie Italienisch für die Arbeit?
— Nein, das nur sehr selten. In der Regel gefällt ihnen einfach die Sprache. Sie fahren nach Italien, und es gefällt ihnen, dass sie sich dort auf Italienisch ausdrücken können. Viele lernen, weil sie eine italienische Freundin oder einen italienischen Freund haben.
— Sind sie auf die Schule BigWig, wo Sie jetzt arbeiten, selbst gestoßen?
— Ja. Ich führte ein Bewerbungsgespräch, und als es eine freie Stelle gab, hat man mich eingeladen.
— Hat die Schule eine italienische Ausrichtung?
— Dort werden viele Sprachen angeboten: Neben dem Englischen und dem Italienischen auch Deutsch, Spanisch, Französisch und sogar Chinesisch. Doch der Schwerpunkt liegt, würde ich sagen, eher auf dem Englischen.
— Wie sind Sie an Ihre zweite Stelle gekommen?
— Fast zufällig. Giulio veranstaltete einmal im Monat einen virtuellen Markt für italienische Produkte auf Facebook. Dort haben wir uns kennen gelernt. Kaum hatte er dann sein Geschäft Don Giulio Salumeria eröffnet, war ich schon da, um für ihn dort zu arbeiten. Ich sage es ganz ehrlich: Ich bin sowohl gern in der Schule als auch im Laden. Das ist viel Arbeit, und ich würde gern mehr Freizeit haben. Doch im Augenblick geht das noch.
— Würde das Geld aus dem Geschäft allein nicht reichen?
— Als Verkäufer verdient man in Moskau nicht so viel. Ich würde gern mein eigenes Business aufbauen. Oder als Sales Manager in einem der größeren Geschäfte arbeiten, die italienische Waren anbieten wie Lebensmittel oder Möbel. Heute ist natürlich nicht die beste Zeit für so etwas wegen der Krise und des starken Euro. Doch ich habe nicht vor, hier wegzugehen, und hoffe auf die Zukunft.
— Wo Sie dann in Ihren eigenen kleinen italienischen Laden in Moskau haben werden.
— Muss der klein sein? Ich hätte auch gegen einen großen nichts einzuwenden.
— Als Sie nach Moskau gekommen sind, hatten Sie da bereits Bekannte aus Italien hier?
— Nur sehr wenige. Ich habe einen guten Bekannten, der Chefkoch ist bei einem bekannten Restaurant. Er hat mir am Anfang geholfen. Dafür habe ich zum Beispiel für ihn Fotos gemacht. Doch nichtsdestotrotz war es schwer. Die ersten Monate konnte ich auf Russisch nur „Hallo“ und „Wie geht‘s“ sagen. Dann war die Unterhaltung auch schon wieder zu Ende.
— Gibt es Plätze, wo sich Italiener in Moskau treffen und kennen lernen?
— Auf Facebook gibt es die Community „Italiener in Moskau“, doch besuche ich diese eher nicht.
— Wie viele Italiener leben in Moskau?
— Nur wenige, insgesamt 5.000 bis 6.000.
— So wenige sind das aber gar nicht.
— Die Italiener emigrieren zurzeit in Massen. Viele von ihnen sind in London, in Spanien, in den USA. Im Vergleich dazu ist das in Moskau nur eine Handvoll.
— In welchen Städten Russlands waren Sie bereits?
— In Wladimir, Susdal, Sergiev Possad, Mozhaisk. Alles sehr schön. Ich würde gern nach Sankt Petersburg fahren, doch das hat sich noch nicht ergeben.
— Ist das Leben in Moskau teurer als in Italien?
— In Turin ist es wohl billiger. Doch in Mailand ist es etwa wie in Moskau. In Rom aber kann es durchaus noch teurer sein. Hier kostet das Essen nicht so viel.
— Und die Qualität?
— Obst und Gemüse sind in Italien besser.
— Und der Wein?
— Einen guten Wein bekommt man nicht unter 500 Rubel (etwa 8 Euro - Anm. d. Übers.). Was sich Pinot Grigio nennt, hat oft nichts mit einem Pinot Grigio gemein, doch wenn er 500 Rubel kostet, ist er recht ähnlich zum echten.
— Ist die italienische Küche hier der echten italienischen Küche ähnlich?
— Das kommt darauf an. Es kommt vor, dass sie ähnlich ist, zuweilen aber auch nicht. Doch ist die Sache die, dass schon das Verständnis davon, was italienische Küche ist, nicht ganz richtig ist. Jede italienische Provinz hat ihre eigene Art zu kochen. Pasta, Pizza und Lasagne gibt es zwar überall, doch die übrigen Gerichte können sich stark unterscheiden.
— Wo verbringen Sie Ihre Wochenenden?
— Ich liebe es, in den Moskauer Parks spazieren zu gehen. Ich gehe in Restaurants. Aber nicht in italienische.
— Gefällt Ihnen die russische Küche?
— Ja. Ich mag die russischen Suppen, die russischen Salate wie den Olivier und andere.
— Treiben Sie Sport?
— In Italien habe ich das viel gemacht. Ich habe Fußball gespielt, bin gelaufen, Ski gefahren in den Bergen. Die kann man aus meinem Fester sehen. In Cervinia kann man auch im Sommer Ski fahren, weil die Berge dort so hoch sind. Von meinem Haus braucht man nur eine Stunde dorthin. Die Berge fehlen mir. Hier fehlt mir zum Sport einfach die Zeit. Auch das fehlt mir sehr.
— Haben Ihre Eltern versucht, Sie zu überreden, nicht zu fahren?
— Ich war ja schon erwachsen, und sie haben verstanden, dass ich selbst diese Entscheidung treffen muss. Sie haben mich in Moskau auch schon besucht. Und es hat ihnen hier sehr gefallen. Das Zentrum der Stadt ist sehr hübsch.
— Worin unterscheiden sich die Russen von den Italienern?
— Sie haben unterschiedliche Angewohnheiten. Die Italiener essen zum Beispiel um ein Uhr zu Mittag, wohingegen die Russen zu jeder beliebigen Zeit zu Mittag und zu Abend essen, wann es ihnen eben gerade einfällt. Hier kleiden sich die Frauen auch tagsüber so, als würden sie zu einer Abendveranstaltung gehen. Die italienischen Frauen sind zu dieser Zeit eher in Jeans und T-Shirts unterwegs. Wenn ein Russe Geld hat, gibt er es sofort aus. Italiener haben da mehr Angst, es auszugeben; sie sparen lieber. Italiener sind da vorsichtiger. Die Wohnungen und Häuser unterscheiden sich stark voneinander. In Italien sind die Wohnungen in der Regel größer als hier in Moskau.
— In Ivrea wohnt man vermutlich eher in Häusern als in Wohnungen?
— Ja, bei uns hat jeder sein Haus. In Turin ist das anders, doch sind die Wohnungen dort in der Regel größer als in Moskau. In den Städten hat eine übliche Wohnung 60 bis 80 Quadratmeter. In Moskau sind das 40.
In Moskau gibt es alles, eine riesige Stadt. Turin ist ruhiger und im Vergleich mit Moskau klein. Dort lebt etwa eine Million Menschen. Mailand ist da Moskau ähnlicher, doch ist es auch kleiner als Moskau. Dabei ist nicht alles für neu angekommene Ausländer passend. Hier ohne die Hilfe von Russen ein Leben zu beginnen, ist äußerst schwierig. Es ist schwer, eine Wohnung zu finden und Arbeit. Es ist sehr schwierig, die vielzähligen Dokumente auszufüllen. Wenn man nicht verheiratet ist, ist es sehr schwer, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. In Italien ist das erheblich einfacher. Insgesamt ist es dort mit fast allen Dokumenten einfacher. Doch dafür sind in Italien die Steuern sehr hoch.
— Was gibt es in Italien nicht, was es in Russland gibt?
— Es gibt zum Beispiel Geschäfte, die 24 Stunden geöffnet haben. Das ist sehr bequem! Doch das ist natürlich nicht das wichtigste. In Russland verbindet die Menschen sehr viel miteinander. In Italien ist das überhaupt nicht so. Italien ist für Italiener keine wirkliche Heimat, sozusagen. Wir sind keine Patrioten. Sicher, weil wir ein recht junges Land sind. In Russland gibt es da mehr Patriotismus. Doch kenne ich Russland noch sehr wenig, um meine Schlüsse zu ziehen.