Dorthin, wo sich der Kapitalismus gerade entwickelt!
Nach Russland kam Patrice rein zufällig – nach einem Telefonanruf. An einem Sommertag im Jahre 1992 erhielt er einen Anruf von seinem Freund Michel Chovet, der ihm mitteilte: «Patrice! Ich habe eine Arbeit für dich! Dafür musst du nur eine Kleinigkeit tun – du musst nach Russland kommen!“
– Ich schaute mir Russland auf der Landkarte an und war entsetzt: weder Europa noch Asien. Was passierte da – Umbruch oder bewaffnete Revolution? Die Fernsehnachrichten brachten auch keine Klarheit, – erzählt uns Patrice lachend. Aber mein Freund Michel rief mich jeden Tag an und redete auf mich ein: „Hier passiert gerade eine antikommunistische Revolution! Der Kapitalismus wird geboren. Wir bauen unsere Küche von Null auf, und unsere Gewinne sind einfach unglaublich!“ Und da habe ich gedacht: „Ich kann ja nichts verlieren, wenn ich für ein paar Jahre nach Russland gehe und dann wieder zurückkomme.“
Ich schaute mir Russland auf der Landkarte an und war entsetzt: weder Europa noch Asien. Was passierte da – Umbruch oder bewaffnete Revolution?
Mein erster Tag in Russland dann ließ in mir gemischte Gefühle aufkommen.
– Die Gesichter der Menschen um mich herum waren düster, Fremde wurden kritisch beäugt.
Vom Flughafen kam ich direkt in die Küche des Restaurants „POTEL & CHABOT“ im Hotel „Meschdunarodnaja“, also: „International“, wo ich eine beratende Position einnehmen sollte. Damals konnte ich kein Wort Russisch! Aber zum Glück sprachen die dort angestellten Köche etwas Englisch.
Drei Tage später beherrschte Patrice bereits einige Wörter auf Russisch. Die Gäste baten ihn in den Speisesaal heraus und sagten: „Man könnte sich glatt die Finger ablecken!“ (was in Russland bedeutet, dass etwas sehr lecker war).
– Man könnte sich glatt die Finger ablecken! – wiederholte der Franzose immer wieder, während er seine Moskauer Kollegen in die Geheimnisse der Zubereitung der Stopfleber „Foie gras“ und der Ente-Confits einführte. Die Gäste bestellten zwei bis drei Portionen seiner Gerichte auf einmal.
– Sie haben sich wie kleine Kinder gefreut, wenn sie ein neues Gericht entdeckten! Wir haben täglich Gerichte gekocht, die in Frankreich nur zu bestimmten Anlässen wie Weihnachten zubereitet werden. Aber in Russland liebt man es, jeden Tag zu feiern!
Sein eigenes Unternehmen mit einem Partner
– Bis zum Sommer 2002 konnte ich eine gewisse Geldsumme auf die hohe Kante legen. Und ich habe darüber nachgedacht, ein eigenes kleines Café zu eröffnen. Ich hatte aber damals noch nicht genug Geld dafür, aber einmal kam eine Bekannte von mir, Olga, eine Geschäftsfrau, auf mich zu und fragte: „Patrice, was hältst du von Eierkuchen?“ ich meinte daraufhin, dass in Frankreich Eierkuchen sehr beliebt sind, insbesondere in der Normandie und der Bretagne. Wir machen dabei spezielle Arten von Eierkuchen – Crêpes aus Weizenmehl und Galettes aus Buchweizenmehl.
Ausländer, die ihr eigenes Unternehmen in Russland gründen wollen, arbeiten mit einem ortsansässigen, erfahrenen Geschäftsführer zusammen.
Olga hatte damals gerade vor, eine Crêperie-Kette zu gründen und fragte mich, ob ich ihr dabei nicht helfen wollen würde. Das Angebot war sehr verlockend, insbesondere weil ich bis dahin noch keine französische Crêperie in der Stadt gesehen hatte. Den Namen haben wir sehr schnell gefunden.
– Es ist für einen Ausländer ziemlich schwer, ein eigenes Restaurant oder Café in Russland zu eröffnen, die notwendige Genehmigung und die Alkoholausschanklizenz zu erhalten. Vor allem wenn er kein Russisch spricht oder versteht. Man hätte natürlich eine Liste von notwendigen Papieren im Internet finden und in die entsprechende Behörde kommen können, um dort dann aber zu hören zu bekommen, dass die eine oder andere Bescheinigung dann doch fehlte. Und so hätte man sich monatelang weiter im Kreis drehen können. Doch Zeit ist Geld.
Oleg Chlebnow, geschäftsführender Partner der Firma Inventica:
– Hohe Mietpreise und administrative Hindernisse zählen zu den üblichen Barrieren für Investoren, die sich für den russischen bzw. den Moskauer Restaurantmarkt interessieren. Daher kommt es, dass in Moskau auf ein Restaurant 1.721 Gäste kommen, während es in London 488, in New York 228 und in Paris 131 sind. In einer solchen Situation werden die schwierigen Startbedingungen schnell durch zukünftige Gewinne kompensiert. Eine durchschnittliche Rechnung im Bereich Casual Dining in den Moskauer Restaurants beträgt heute 35-45 US Dollar bei einem Aufschlag von 300% auf Lebensmittel und 400-450% auf alkoholische Getränke. Für ein komfortables Auskommen braucht ein Restaurant 150-200 Gäste pro Tag, die erfolgreichsten von ihnen ziehen pro Tag bis zu 500 und mehr Gäste an. Die Kosten für die Eröffnung eines Restaurants im Bereich Casual Dining belaufen sich in Moskau auf 1500-2000 US Dollar pro m2.
Die Miete auf den zentralen Straßen beträgt 55.000-60.000 Rubel pro m2 und Jahr. Diese Bedingungen sind für die bekannten Restaurantketten des Segmentes Upper Casual Dining üblich. Die anderen mit nicht klar definiertem Image lassen sich an Orten mit einer Miete von 30.000-45.000 Rubel nieder. Die diskontierte Amortisationsdauer für Restaurants in Moskau beträgt zwischen dreieinhalb und vier Jahren, für erfolgreiche Casual Dining-Ketten variiert diese zwischen zwei und drei Jahren.
Daher arbeiten Ausländer, die ein eigenes Unternehmen in Russland gründen wollen, mit einem ortsansässigen, erfahrenen Geschäftsführer zusammen. Ich würde diesen als den „Kopf“ des Unternehmens bezeichnen, denn er ist die wichtigste Person bei diesem ersten Schritt in die Selbstständigkeit. Gewöhnlich bekommt er zwischen 45.000 und 60.000 Rubel pro Monat, in Abhängigkeit von der Größe des Unternehmens. Ihn kann man mithilfe einer Personalagentur finden, aber viel besser ist es, wenn sie einen Geschäftsführer auf eine Empfehlung hin einstellen. Aber auch in diesem Fall kann man nicht hundertprozentig sicher sein, dass er sie nicht betrügt und sich ihr Geld nicht in seine eigene Tasche steckt. Leider geriet meine Geschäftspartnerin an einen solchen Betrüger: Dieser hatte den doppelten Preis für Möbel und Renovierung der Räumlichkeiten, die Olga auf der Profsojusnaja-Straße in der Nähe von der U-Bahnstation „Akademitscheskaja“ gemietet hatte, abgerechnet und vermutlich die Hälfte der Summe zurückbehalten. Daraufhin haben wir ihn gefeuert und uns im Alleingang mit dem Einkauf der Küchenausstattung und der Inneneinrichtung der Räumlichkeiten auseinander gesetzt.
Eine ältere Dame meinte, nachdem sie einen Eierkuchen probiert hatte: „Na so was! Da belebt ein Franzose ein altes russisches Rezept wieder.“
Aushänge, die im Stil der ersten Jahre des letzten Jahrhunderts gehalten sind, wurden in einer Druckerei hergestellt, die Straßenlaternen wurden von einem Dorfschmied nach unseren Zeichnungen gefertigt, – setzt Patrice seine Erzählung fort. Wir haben auch selbstständig die Personaluniform entwickelt. Mit der Planung und der Montage der Steckdosen sowie mit der Berechnung der notwendigen Ofenkapazität hat sich ein von uns eigens eingeladener Spezialist auseinander gesetzt.
Die Lage unseres Cafés war günstig – gleich neben einem großen Einkaufszentrum auf einer belebten Straße. Aber es war Hochsommer und viele Menschen waren verreist. So machten wir uns Sorgen, dass unsere Crêperie leer bleiben würde – aber wie sich herausgestellt hatte, völlig umsonst: Es gab einen gewaltigen Kundenandrang auf unsere Crêperie!
„Suzette“ für Moskauer
Unsere Crêpes – dünne und elastische Eierkuchen mit verschiedenen Füllungen – wurden zum absoluten Verkaufsschlager. Die Kunden waren auch von den französischen Namen wie „Camembert“, „Suzette“ und ähnliches ganz verzaubert. Man setzte sich ans kleine Café-Tischchen und stellte sich vor, man wäre irgendwo in Paris, auf der Avenue des Champs-Élysées oder auf dem Montmartre.
– Die Kunden sagten oft: „Es scheint, als ob bei Ihnen die Gerüche aus der ganzen Welt eingefangen wären: von irgendwelchen Kräutern, Bäumen, Schiffslacken…“ Und eine ältere Dame meinte, nachdem sie einen normannischen Eierkuchen probierte: „Na so was! Da belebt ein Franzose ein altes russisches Rezept wieder.“ Sie wusste offensichtlich nicht, dass auch bei uns in Frankreich solche Galettes schon seit ewig traditionell hergestellt werden. Ich finde es gut, dass die Russen immer das sagen, was sie auch wirklich meinen. So bekam ich manchmal von meinen Kunden auf die Frage, ob mein Essen ihnen schmeckt, die direkte Antwort: „Nein, es schmeckt nicht“. So etwas ist dann nicht besonders angenehm, aber hilfreich, denn ein Fehler lässt sich immer korrigieren.
Patrice imponiert auch, dass die Russen, ähnlich wie die Franzosen, große Feinschmecker sind und sehr gutes Essen schätzen.
Igor Bucharow, Restaurantbesitzer und Präsident der Russischen Föderation der Restaurant – und Hotelbesitzer:
– Eine Sättigung des Restaurantmarktes in Moskau wurde bei Weitem noch nicht erreicht. In der russischen Hauptstadt mangelt es immer noch an Lokalen der mittleren Preiskategorie, die für alle sozialen Klassen erschwinglich sind. Aber es klappt trotzdem nicht bei jedem, ein gutes Restaurantprojekt ins Leben zu rufen. Jedes Jahr wechseln Dutzende von Restaurants ihre Besitzer oder werden geschlossen; ihren Platz nehmen dann andere Restaurants ein. Ausländische Restaurantbesitzer in Moskau stellen eher eine Seltenheit dar. Des Öfteren sind diese auch keine alleinigen Besitzer, sondern arbeiten mit russischen Geschäftspartnern zusammen. Das überrascht auch nicht: Man sollte die Besonderheiten des russischen Marktes gut kennen, um gegen die Konkurrenz im Kampf um den Kunden gewinnen zu können.
– Der Unterschied dabei ist, dass die Franzosen dazu eher Wein und die Russen eher Wodka trinken. In Russland musste ich mich auch an die zahlreichen Trinksprüche gewöhnen, denn bei uns ist das einfach nicht üblich. Aber jetzt habe ich mich an diese russische Tradition gewöhnt.
Eine bestimmte Eigenart
– In Russland hat mich anfänglich sehr überrascht, dass am Ende eines Arbeitstages alle Küchenräume und sogar Kühlschränke verriegelt wurden. So etwas kennen wir bei uns in Frankreich nicht. Ich fragte daher nach dem Grund und bekam folgende Antwort: „Wenn alles offen bleibt, bleibt nichts mehr übrig.“ Ich konnte einfach nicht verstehen, wieso die Leute sich selbst beklauen sollten. Und bekam dann zu hören: „Die Menschen haben geringe Arbeitslöhne, die sie dann durch die Lebensmittel aufwerten“.
Wegen des starken Mietanstiegs musste das Café in der Nähe der Majakowskaja schließen. Patrice fing an, russische Buchführung und Recht zu studieren.
Bei uns wird daher alles streng kontrolliert. Jederzeit können wir eine Kasse aufmachen und nachsehen, ob das Geld in der Kasse den Beträgen auf den Bons entspricht. Die Preise für unsere Crêpes waren sehr gering: ein großer Crêpe mit Zuckerpuder kostete nur 40 Rubel. Unsere Gewinnmargen waren dabei ziemlich klein. Um unser Unternehmen zu vergrößern, haben wir zweimal unsere Preise angehoben, aber die Zahl der Kunden wurde dadurch nicht beeinflusst.
Ihr zweites Café mit Namen „Crêperie de Paris“ haben Patrice Tereygeol und Olga im Zentrum Moskaus eröffnet, direkt neben der U-Bahnstation „Majakowskaja“.
– Dort hat man von uns eine sehr hohe Miete verlangt. Insgesamt sind die Mietpreise im Zentrum Moskaus viel höher als anderswo in Russland oder in Europa. Und in Paris kann man einen Mietvertrag mit einer Laufzeit von über zehn Jahren abschließen. In Moskau, dagegen, konnte man manchmal nur für elf Monate einen Raum mieten. Wenn die Mietfrist dann abgelaufen war, könnte der Vermieter von einem einen Mietzins verlangen, der 30% oder 50% höher als der ursprünglich vereinbarte war. Aber ein Café ist kein Schuhgeschäft, wo man die Schuhkartons zusammenpacken und einfach umziehen kann. Wir haben in unserer Küche eine spezielle Ausrüstung, und unsere Speiseräume wurden für teures Geld renoviert und ausgestattet.
Die drastisch gestiegene Miete zwang Patrice und Olga, das Café in der Nähe der Majakowskaja zu schließen. Patrice hatte danach angefangen, die Besonderheiten der Buchhaltung und des Rechts in Russland zu studieren.
Die Geschäftspartner suchten dann nach einem Gewerberaum, der längerfristig gemietet werden sollte. Außerdem sollte im Mietvertrag ganz klar vereinbart werden, inwieweit der Mietpreis in Abhängigkeit von der Inflation angehoben werden durfte.
– Unser drittes Café haben wir in Sokolniki eröffnet, und die Räumlichkeiten dafür haben wir für zehn Jahre gemietet. Früher war dort ein Blumenladen, in den Kellerräumen stand das Wasser, und die Wände waren feucht… So mussten wir alles komplett renovieren. Mit den Möbeln hatten wir dafür keine Probleme gehabt: In Moskau gab es zu dieser Zeit viele spezialisierte Möbel– und Einrichtungshäuser.
Besonderheiten des nationalen Business
Patrice ist der Meinung, dass Ausländer noch immer Angst vor den berüchtigten lokalen Banditen haben, die in den 90er Jahren Schutzgelder erpressten. Aber Anfang der 2000er Jahren sah die Schutzgelderpressung in Russland etwas anders aus.
– Zu uns konnten verschiedene Behörden mit einer Kontrolle kommen und irgendwelche geringfügige Verstöße finden. Dafür, dass sie die Augen zumachten, verlangten sie Geld. Ich habe das auch erlebt. Als wir ein neues Café aufmachten, kam ein Feuerschutzinspektor vorbei, hat alles angeschaut und nichts Schlimmes gefunden. Nach drei Monaten kam er erneut und fand plötzlich sehr viele Regelverstöße, die ihm früher angeblich nicht aufgefallen wären… Wie ist so etwas überhaupt möglich? Gegen dieses System anzukämpfen ist schwer, aber nicht unmöglich. Dafür habe ich angefangen, die relevanten Gesetze und Anforderungen zu studieren, und weiß heute ganz genau, was ich darf und was nicht. Ich zahle keine Schmiergelder.
Russland ist ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Auch hier besteht ein Risiko, aber der Gewinn ist viel höher als in jedem anderen Land.
In Russland wurde übrigens im Jahre 2008 wegen der Häufigkeit solcher Situationen ein spezielles Gesetz verabschiedet. Es heißt auch das Gesetz „Über den Schutz der Rechte von juristischen Personen und privaten Unternehmern während der Durchführung einer Staats– und Kommunalkontrolle“. Im Gesetzestext steht auch ganz klar, dass die planmäßigen Kontrollen nicht öfter als einmal in drei Jahren durchgeführt werden dürfen.
Trotz der Tatsache, dass die Businesslandschaft in Russland sich verändert hat und heute ganz anders als die vor 20 Jahren ist, ist es immer noch sehr profitabel, eigene Cafés und Restaurants zu führen. Und viele Regionen Russland sind noch gar nicht erschlossen.
– Russland ist ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, – sagt Patrice überzeugt. Natürlich besteht auch hier das Risiko, alles zu verlieren. Aber gewinnen kann man hier viel mehr als in jedem anderen Land Europas oder sogar weltweit. Das russische Sprichwort lautet: „Wer nichts riskiert, der trinkt auch keinen Champagner“.