Sowjetischer „Beauty Contest“
– Nach Russland, das damals noch Sowjetunion war, kam ich zum ersten Mal 1988, auf dem Höhepunkt von Gorbatschows „Perestroika“. Ich unternahm eine sechswöchige Autotour: durch Helsinki nach Leningrad (das heutige Sankt-Petersburg) und Moskau und dann zurück nach Deutschland über Brest.
Im Jahre 1989 beendete ich die Schule in Frankfurt am Main. Damals fiel auch die Berliner Mauer, und ich bekam Lust, die Orte zu sehen, die zuvor durch den „eisernen Vorhang“ von uns abgeschirmt waren. Dabei wollte ich unbedingt nach Leningrad, denn diese Stadt hat mir während des ersten „Beauty Contests“ sehr gut gefallen. Aber erst 1991 bekam ich ein Jahresvisum für die Sowjetunion und eine Erlaubnis für ein Studium an der philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität Leningrad (LGU), denn ich hatte entsprechende Fächer bereits in Deutschland studiert.
Damals sprach ich kein Russisch, und als ich nach Russland kam, wurde mir sofort klar, dass ich ohne Sprachkenntnisse nicht studieren kann. Aber vorgreifend kann ich sagen, dass ich das Studium an der philosophischen Fakultät der LGU ein paar Jahre später beendet habe.
Als ich noch am Überlegen war, was ich alles machen könnte, kam es 1991 zum Putsch, und die Sowjetunion brach zusammen. Und ich blieb in einer Art Vakuum zurück.
Zu meinen wichtigsten Leistungen zählt, dass ich mir in Russland angewöhnt habe, mich ständig weiter zu bilden. Man darf hier nicht stehen bleiben.
Business statt Studium
– Im November 1991 kam ein Gesetz über ausländische Investitionen heraus, nach welchem auch private Personen das Recht bekamen, ein eigenes Unternehmen in Russland zu gründen. So reichte ich bereits im Januar 1992 die notwendigen Papiere für die Anmeldung meines Unternehmens ein und bekam daraufhin eine offizielle Genehmigung. Allerdings wurde der Zweck meiner Firma „Ost-West KontaktService“ dort nicht einmal erwähnt.
Noch während meiner Studienzeit in Deutschland habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wieso Menschen, die in Armut leben, nicht einfach ein eigenes Unternehmen gründen? Solche naheliegenden Gründe wie Faulheit, Schüchternheit etc. reichten mir nicht. Und da bekam ich selbst die reelle Möglichkeit zu beweisen, dass jeder, der es wirklich schaffen möchte, sein eigenes Unternehmen gründen und es erfolgreich führen kann. Als Startkapital diente mir dabei der Rest meines Schulgeldes, das ich mitgebracht habe. Es waren ungefähr 2.000 US Dollar.
Zu meinen wichtigsten Leistungen zähle ich unter anderem die in Russland erworbene Gewohnheit, mich ständig weiter zu bilden. Man darf hier einfach nicht stehen bleiben. In Russland kommt es immer wieder zu irgendwelchen Gesetzesänderungen und Änderungen der Regeln der Unternehmensführung; so muss man informationstechnisch immer auf dem aktuellsten Stand sein.
In den letzen Jahren nimmt die Anzahl der Touristen auch aus Asien zu: aus Japan, China, Taiwan, Singapur und mittlerweile auch aus Indien.
Ich habe mich von Anfang an für einen besonderen Weg entschieden. Die meisten ausländischen Unternehmer stellen nämlich russische Juristen ein, die Englisch sprechen, und lassen diese ihre Geschäfte führen. Ich, dagegen, wollte mich selbst mit allen Einzelheiten auskennen und nahm deswegen jede Woche jeweils zwei Stunden Privatunterricht bei einer russischen Juristin. Der Unterricht fand grundsätzlich auf Russisch statt, und nur wenn ich in erster Zeit mit meinem Russischen nicht weiterkam, sprachen wir Englisch miteinander. Wir haben dabei alle Verordnungen, Vertragsformen u. ä. durchgenommen; jetzt fühle ich mich in dieser Hinsicht ziemlich sicher. Ich denke, dass ich in diesen Jahren so etwas wie ein Jura-Studium bewältigt habe!
Ein glücklicher Zufall
– Mein Unternehmen begann damit, womit sich damals alle beschäftigt haben: mit dem Verkauf. Nur handelte ich nicht mit Waren, sondern mit Dienstleistungen im Bereich Tourismus. Das Leben selbst hat mir diesen Weg gezeigt. Meine Landsleute wandten sich an mich, wenn sie eine Reise nach Sankt-Petersburg unternehmen wollten und Unterstützung bei den Einreiseformalitäten brauchten. Sie fragten mich außerdem nach geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten, ob ich einige Ausflüge zusammenstallen könnte etc.
Ich war ja selbst eine der ersten Ausländer gewesen, die auf eigene Faust das neue Russland erkundeten. Auch heute noch erforsche ich immer neue Regionen Russlands und stelle verschiedene Routen zusammen, die für ausländische Touristen interessant sein könnten. Es ist einfach ein glücklicher Zufall, wenn dein Hobby zum Beruf wird.
Etwas später eröffnete ich das Büro meiner Firma „Ost-West KontaktService“, in welchem zwölf Mitarbeiter beschäftigt waren, im Zentrum von Sankt-Petersburg auf der Majakowskaja-Straße. Wir haben uns auf ausländische Kunden spezialisiert. Zuerst waren es meine Freunde und Bekannten aus Deutschland und dann, mit exponentiellem Wachstum, Freunde, Bekannten und Kollegen der Freunde usw. Auch die Länderliste wurde immer länger, mittlerweile umfasst diese fast die ganze Welt. Außer den deutschen Kunden, unter welchen die meisten selbstständig reisende Touristen sind, kommen zu uns auch viele Kunden aus dem benachbarten Finnland, aus den USA und aus Italien. In den letzen Jahren nimmt die Anzahl der Touristen auch aus Asien zu: aus Japan, China, Taiwan, Singapur und mittlerweile auch aus Indien. Einige Kunden kommen sogar aus Australien und Neuseeland zu uns.
Meine Landsleute wandten sich an mich wegen Reisen nach Sankt-Petersburg und baten mich um Unterstützung bei den Einreiseformalitäten.
Krisenbedingtes Schrumpfen
– Für die Unternehmensgründung und für das Abbezahlen von Schulden habe ich insgesamt fünf Jahre gebraucht. Erst 1997 stand ich als Business-Lady sicher auf den Beinen. Vor einigen Jahren wurde mir die Silbermedaille „Für einen herausragenden Beitrag zur Tourismusentwicklung in Russland“ verliehen und meine Firma wurde mit dem Orden „Anerkennung“ ausgezeichnet.
In den „erfolgreichen“ Jahren hatten wir über 7.000 Kunden. In der Krisenzeit 2010 hatten wir dagegen nur die Hälfte – 3.500 Kunden. Daher mussten wir schrumpfen: Wir zogen in ein kleineres, aber dennoch zentral gelegenes Büro direkt gegenüber der Metrostation „Majakowskaja“ um und mussten einige Mitarbeiter entlassen. Statt 21 beschäftigen wir zurzeit nur sieben Mitarbeiter, welche aber echte Allrounder sind: Sie kümmern sich um die Kunden von ihrem ersten Reiseantrag an bis zu ihrer Abreise nach Hause nach Beendigung der Russlandreise. Sie regeln die Einla– dungsausstellung, reservieren die Hotelzimmer, empfangen die Kunden, kümmern sich um die Ausflüge und um das Kulturprogramm und arbeiten die Routen aus, falls ein Kunde etwas anderes außer Sankt-Petersburg sehen möchte. Zurzeit ist zum Beispiel die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn – durch Russland und die Mongolei nach China – sehr gefragt.
Ich sehe die Krise entspannter als viele meiner ausländischen Kollegen, die noch nicht so lange in Russland sind, denn es ist bereits meine dritte. Nach dem Default im Jahre 1998 bezahlte ich beispielsweise noch drei Jahre lang meine Schulden.
Darja Birjukowa, Leiterin der Abteilung für Marktforschung FMCG und für Touristik im Unternehmen IndexBox:
– Im Jahre 2010 kamen 2,1 Mio. ausländische Touristen nach Russland. 2011 waren es 10% mehr und die Zwei-Millionen-Grenze wurde bereits in den ersten neun Monaten überschritten. Zum Vergleich: Nach Frankreich kamen im Jahre 2010 79 Mio. Touristen, und in die USA – 60 Mio.
Zu den Faktoren, die den Einreisetourismus in Russland beschränken, zählen in erster Linie ein zu geringeres Budget, das für die Entwicklung Russlands als attraktives Reiseziel bereitgestellt wird, und zu strenge Visumsbestimmungen. Aber auch trotz dieser Hindernisse ist das Potential Russland im Bereich Tourismus unglaublich groß: Russland besitzt mehrere Klimazonen, die alle möglichen Arten der Erholung bieten – von einem Strand- oder Skiurlaub bis hin zum Polarurlaub. Hinzu kommt noch eine riesige Auswahl an Gedenkstätten, an Naturdenkmälern, an Reisetouren wahlweise zum Baikalsee, nach Sibirien, nach Kamtschatka usw.
Für die Gründung eines Reiseunternehmens, das sich auf den Einreisetourismus spezialisiert, ist eine einmalige Investition von ca. 300.000 Rubel erforderlich. Dies sind die Mittel, die für die Miete von Gewerbeflächen, für die Ausstattung von Arbeitsplätzen, für den Internet- und Telefonanschluss, für die Lohnzahlungen von Mitarbeitern und für die Werbung benötigt werden. Eine günstige Variante stellt die Eröffnung einer Internet-Firma dar, für welche keine Büroräume und fast kein Personal erforderlich sind. In diesem Fall werden sich die Ausgaben auf ca. 80.000 bis 100.000 Rubel belaufen, wobei die meisten Mittel für die Werbung verwendet werden. Die Gesamtrentabilität schwankt dabei in der Regel zwischen 5% und 10%. Im Durchschnitt macht sich so ein Reisebüro innerhalb von eineinhalb Jahren bezahlt.
Wie man Erster wird
– Manchmal helfe ich auch meinen ausländischen Kollegen, die in Sankt-Petersburg ihr eigenes Unternehmen gründen wollen, mit der Erledigung der notwendigen Formalitäten. Sie haben immer sehr viele Fragen, die ich zu beantworten versuche. Am häufigsten werden Fragen zu den Anmelderegeln und den Steuerzahlungsmodalitäten gestellt.
Es gibt einige gravierende Unterschiede zwischen dem russischen und dem westlichen Markt. In Russland ändert sich die wirtschaftliche Lage rasant. Häufig steigt die Nachfrage nach bereits existierenden Produkten oder Dienstleistungen, und es tun sich immer neue Marktlücken auf, die nur auf Unternehmer mit Eigenkapital warten. Hier entwickelt sich alles – im Gegensatz zum Westen, wo sich alles über die Jahre eingependelt hat – viel schneller.
Andererseits – trotz des 20-jährigen Bestehens der Marktwirtschaft – versucht Russland immer noch, die hochentwickelten westlichen Länder einzuholen, da es in verschiedenen Bereichen noch immer etwas zurückbleibt. Und es stellt keinen Sonderfall dar: Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind mittlerweise mehr als 20 Jahre vergangen, aber es bestehen immer noch sehr starke Diskrepanzen zwischen Ost und West. Das bedeutet, dass man einfach verstehen muss, wo eine eventuelle Rückständigkeit und somit auch eine Marktlücke vorliegt, und diese Lücke dann einfach mit den passenden Neuerungen, seien es technologische oder servicebezogene füllen. Und du wirst in Russland der Erste sein!
In Russland ändert sich die Situation rasant: Oft steigt die Nachfrage nach bestehenden Produkten oder Services, und es tun sich neue Marktlücken auf.
Ich selbst habe beispielsweise dazu beigetragen, dass die Lomografie (eine Art Schnappschussfotografie) eine starke Verbreitung in Russland findet. Die Zentrale der „Internationalen lomografischen Gesellschaft“ befindet sich in Wien, und nach Russland kamen die Anhänger von Lomografie im Jahre 1994. Ihre Reise haben sie bei mir gebucht. Im Jahre 2000 habe ich dann in Sankt-Petersburg den ersten Laden aufgemacht, in welchem für die Lomografie geeignete Fotoapparate verkauft wurden. Die Nachfrage nach solchen Fotoapparaten stieg von Jahr zu Jahr, und nach einer Weile konnte ich es im Alleingang nicht mehr bewältigen – ich hatte schlichtweg keine Zeit dafür. Den Laden übernahm daraufhin mein Mann und gründete damit sein eigenes Unternehmen.
Des Weiteren engagiere ich mich auch gesellschaftlich: Bereits seit zwei Jahren gebe ich in Sankt-Petersburg die regionale russischsprachige Zeitschrift „Rotarianez“ heraus, die eine Ausgabe von „Rotary International“ in Russland ist.
Elena Zereteli, Vorsitzende des Entwicklungs-programms für kleine Unternehmen beim Gouverneur von Sankt-Petersburg:
– In den letzten sieben Jahren lässt sich in Sankt-Petersburg ein rasanter Aufschwung in der Tourismusbranche und im Hotelwesen beobachten. In erster Linie hängt das damit zusammen, dass die Entwicklung des Tourismus seit 2004 von der Regierung zu einem der strategischen Ziele erklärt wurde. Im Generalverzeichnis der Reisebüros der Russischen Föderation sind zurzeit 555 Petersburger Reisebüros eingetragen. Zum Vergleich: Im Moskauer Verzeichnis sind es zurzeit 1848 Reisebüros.
Im Juli 2011 wurde außerdem ein Föderales Zielprogramm bezüglich der Entwicklung des inländischen Tourismus für den Zeitraum zwischen 2011 und 2018 angenommen. Im Rahmen des Programms sollen für die Tourismusentwicklung 332 Mrd. Rubel bereitgestellt werden, von welchen 28,9% (also fast 100 Mrd. Rubel) auf private Investitionen entfallen. Es tun sich auch sehr gute Perspektiven für ausländische Unternehmen auf.
Im Allgemeinen nimmt Sankt-Petersburg eine führende Position in Bezug auf die Anzahl von Kleinunternehmen ein, denn in der Stadt wurde ein positives Investitionsklima geschaffen, ausländische Investitionen inklusive. Allein im Jahre 2010 wurden in Sankt-Petersburg über 25.000 Unternehmen gegründet und über 104.000 Arbeitsplätze geschaffen.
Ich besteche keinen
– Ich rate denjenigen, die ihr eigenes Unternehmen in Russland gründen wollen, keine Angst zu haben. Ich habe es selbst erlebt: Alle unsere Probleme entstehen, wenn wir Zweifel haben. In erster Linie muss man eine Entscheidung treffen und sich daran halten. Wenn ein Unternehmer weiß, wohin sein Weg führen sollte, lösen sich alle Probleme nach und nach wie von selbst. Lassen Sie sich nicht von irgendwelchen Einzelheiten verunsichern – mit denen werden Sie im Laufe der Zeit noch fertig!
Ich hoffe, dass mit der Zeit die noch vorhandenen Mängel behoben werden können. So muss ich beispielsweise als eine Ausländerin jedes Jahr in der Föderalen Migrationsbehörde (UFMS) erscheinen, um meine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Vor dieser Prozedur sind zurzeit nur diejenigen befreit, die pro Jahr mehr als 2.000.000 Rubel verdienen (dieses Verdienstniveau habe ich leider noch nicht erreichen können): Sie kriegen in einem Eilverfahren die Arbeitserlaubnis und ein drei Jahre gültiges Visum ausgestellt. Ich denke aber, dass man die Ausländer nach einem anderen Prinzip aufteilen sollte: nach der Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein einzelner Spezialist sollte zum Beispiel ganz anders als ein Unternehmer und Arbeitgeber behandelt werden. So wird zum Beispiel in den USA verfahren: Wenn man als Unternehmer über zehn Mitarbeiter beschäftigt, kriegt man die „Green Card“ nach Hause geliefert. Und in Russland stehe ich dagegen bei der Migrationsbehörde in der gleichen Schlange mit Vietnamesen, Chinesen und anderen Gastarbeitern.
Außerdem sollte sich die allgemeine westliche Einstellung zur Korruption in Russland ändern. Ich glaube nämlich, dass dieses Problem im Ausland einfach zu ernst genommen wird. Immerhin existiert im heutigen Russland eine Gesetzesgrundlage, an die man sich als ernst zu nehmender Unternehmer auch halten sollte. Die Behauptung, dass man die Beamten unbedingt bestechen sollte, halte ich für ein Gerücht. Ich glaube eher, dass manche Geschäftsleute selbst bereit sind, einen krummen Weg zu gehen; da muss jeder nach seinem eigenen Gewissen handeln. Ich persönlich habe in den 20 Jahren meiner Unternehmensführung nur ein einzelnes Mal Schmiergeld bezahlt. Das war noch ganz am Anfang der 90er Jahre und alle haben auf mich eingeredet: Ohne Bestechung würde es mit der Unternehmensgründung nicht klappen. Heute bin ich überzeugt, dass es auch ohne Bestechung gegangen wäre. Aber damals habe ich meine ersten Schritte gemacht und vieles einfach nicht verstanden.
Wenn ich meine ersten Schritte in Richtung Unternehmensgründung von damals mit den Bedingungen für die Unternehmensgründer in Russland von heute vergleiche, kann ich sagen, dass heute alles deutlich leichter geworden ist. Es haben sich Spielregeln herausgebildet, und es besteht ein gewisser Handlungsrahmen. Heute ist alles deutlich einfacher und klarer.