Nach Russland der guten Aussichten wegen
– Als ich den Entschluss gefasst habe, nach Russland zu gehen, haben mich meine Freunde und Bekannten für verrückt erklärt, – erzählt Lorin. Sie konnten einfach nicht verstehen, wie man 400 Kühe und 300 ha Land verlassen und sich in eine völlige Unsicherheit begeben kann.
Lorin gibt allerdings zu, dass er auch selbst am Anfang nicht so recht wusste, was aus seinem Vorhaben werden würde.
– Ich bin damals im Internet auf eine Anzeige gestoßen, in welcher ein Engländer namens John Kopiski schrieb, dass er einen Geschäftsführer für eine frei gewordene Stelle in seinem großen Viehzuchtkomplex in Russland sucht. Und da dachte ich mir: Wieso nicht? In Amerika waren meine Möglichkeiten relativ begrenzt. In Russland eröffneten sich mir dagegen ganz neue Perspektiven!
In Russland eröffneten sich mir ganz neue Perspektiven! Heute kommen hierher Vertreter der russischen Behörden, um zu erfahren, wie man von den Kühen viel und qualitative Milch bekommt.
Und so hat er sich getraut und seine Bewerbung nach Russland geschickt. Und John entschied sich im Bewerbungsgespräch unter den fünf ausländischen Farmern für Lorin, denn genau nach so einem Mitarbeiter hatte er schon lange gesucht. Und auch Lorin brauchte für sein Vorankommen in Russland den Engländer John Kopiski, der die russische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und bereits seit 1999 sehr erfolgreich einen landwirtschaftlichen Betrieb in Russland führte, und seine großen finanziellen Möglichkeiten. Diese hatte er nicht einer Fußballkarriere oder einem Touristikunternehmen, sondern der Milchviehzucht zu verdanken. Und so hatten sich ein Amerikaner und ein Engländer im Wladimirer Gebiet in Russland gefunden, wo Kopiski einen einzigartigen Viehzuchtkomplex aufbaut hat. Heute kommen hierher die russischen Behörden um zu erfahren, wie man von den Kühen viel und qualitative Milch bekommt.
Das Wichtigste im Leben ist die Arbeit
An einem Samstag, den man in Russland üblicherweise der Erholung oder dem Haushalt widmet, haben wir Lorin bei der Arbeit im Viehzuchtkomplex angetroffen. Vor fünf Minuten kam hier noch ein Kälbchen zur Welt.
– Pro Tag werden bei uns zwischen zehn und fünfzehn Kälbchen geboren, und einmal hatten wir sogar einen Rekord – 40 neugeborene Kälbchen an einem Tag! – berichtet uns stolz Julia, Mitarbeiterin der hiesigen „Entbindungsstation“. Unser Betrieb gefällt mir sehr gut: Wir verwenden die modernsten Technologien und verfolgen eine ganz andere Arbeitspolitik als die umliegenden Betriebe.
Der Arbeitslohn beträgt im Komplex „Roschdestwo“ im Durchschnitt 17.000 Rubel (d.h. ca. 570 US Dollar) pro Monat, was für das Wladimirer Gebiet insgesamt ziemlich gut ist.
– Wir stellen aber nicht jeden ein, – sagt Lorin. Trinker, Diebe und Faulpelze haben bei uns nichts vergessen. Von denen, die ich 2005 eingestellt habe, ist keiner geblieben. Dafür kann ich mich auf jeden meiner 100 Mitarbeiter, die ich heute beschäftige, zu 100% verlassen.
Im Betrieb arbeiten nicht nur Russen, sondern auch viele Ausländer: Tadschiken, Usbeken, Moldauer und Ukrainer (seit dem Zerfall der UdSSR sind Tadschikistan, Usbekistan, die Republik Moldau und die Ukraine eigenständige Nachbarstaaten Russlands). Die nationale Zugehörigkeit seiner Mitarbeiter spielt für Lorin dabei kleine Rolle, denn viel wichtiger ist es für ihn, wie die Mitarbeiter ihren Verpflichtungen nachkommen.
Lorin erzählte uns, dass sie vor kurzem einen „Betriebstag“ hatten. Das ist eine Feier für alle, die in der Landwirtschaft tätig sind und welche in Russland jedes Jahr im Spätherbst begangen wird. Im Komplex „Roschdestwo“ hat man an diesem Tag getanzt und etwas getrunken. Lorin Grams meint, dass eine solche alljährliche Veranstaltung ein gutes Teamklima und ein allgemeines Zusammengehörigkeitsgefühl schafft.
– Ich bin ja selbst nicht abgeneigt, in meiner Freizeit ein Glas Bier zu trinken, – sagt Lorin. Und das Bier schmeckt in Russland seiner Meinung nach nicht schlechter als in Amerika.
Lorin meint, dass sein Leben in Russland sich mit jedem weiteren Jahr immer weniger von seinem früheren in Amerika unterscheidet.
– Ich mache ja im Grunde immer noch die gleiche Arbeit, – erklärt er. Hier ist alles nur größer und interessanter. Und ich finde es spannend, die unerwartet aufkommenden Hindernisse überwinden zu müssen.
Ewgenija Parmuchina,
Leiterin des Forschungsunternehmens Research.Techart:– In Russland werden pro Jahr und pro Kopf ca. 230 kg Milchprodukte konsumiert (in den Industrieländern liegt dieser Durchschnittswert bei 235 kg). Im Jahre 2010 wurden in Russland 31,8 t Milch produziert, was 2,2% weniger als 2009 war. Im Jahre 2011 ging die Milchproduktion weiter zurück, was vor allem auf die Futterverteuerung und die Folgen der starken Dürre von 2010 zurückzuführen ist. Trotz dieser Produktionsreduktion wächst der Verbrauch von Milchprodukten (und somit auch das Importvolumen) stetig (im Jahre 2010 wuchs der Verbrauch im Vergleich zum Verbrauchsniveau von 2009 um 14%).Die Gründung eines Molkereibetriebs in Russland ist ein ziemlich kostenintensives und risikoreiches Unterfangen mit einer langen Kapitalrückflussperiode (von ca. acht bis fünfzehn Jahre). Das Investitionsvolumen pro Kuh beträgt 120.000 – 400.000 Rubel, abhängig von der Komplexausstattung und vom Vorhandensein zusätzlicher technologischer Produktionsbereiche (wie beispielsweise eines Mini-Werks für die Mischfutterproduktion). Für die Ausstattung von einer Farm mit 100 Stück Vieh braucht man zwischen zwei und fünf Mio. Rubel. Für einen Molkerei- und Viehzuchtkomplex mit 1.200 Tieren braucht man eine noch aufwändigere und teurere Ausstattung, die zwischen 60 und 100 Mio. Rubel kostet.
Durch Probleme zu Rekorden
Am Anfang hatten wir noch einige Schwierigkeiten, unter anderem das Problem, dass unsere Kühe aus dem Ausland immer wieder krank wurden. Nach einer Weile haben wir den Grund dafür identifizieren können: Es waren die in Russland üblichen warmen Kuhställe.
– Wir konnten den russischen Behörden dann klar machen, dass solche Kuhställe für dänische Kühe ungeeignet sind: Diese geben viel Milch und fühlen sich am wohlsten an der frischen Luft, in solchen Ställen ohne Wände und Türen. Die größten Melkerträge erzielt man bei Minusgraden, weil die Tiere dann viel mehr essen als sonst. Unsere Kühe können Temperaturen von bis zu –40 °C aushalten!
Und tatsächlich: Die aus Dänemark importierten 1.600 Kühe fühlen sich am wohlsten in den leichten und modernen Faltenstahlkonstruktionen und bringen gesunde Junge zur Welt. Zurzeit befinden sich im Komplex insgesamt 3.500 Tiere, und es werden rekordverdächtige Melkerträge erzielt.
Kopiski und Grams sind sich sicher, dass nur Landwirte, die einen Melkertrag von 6.000 l pro Kuh und Jahr erzielen können (d.h. ca. 20 l Milch pro Tag), eine Milchviehzucht betreiben können. Zur Information: Der heutige Durchschnittswert für den Milchproduktionsumfang in Russland beträgt 3.800 l pro Kuh und Jahr. Im Landwirtschaftsbetrieb von Kopiski und Grams beträgt der Milchproduktionsumfang 10.000 l pro Kuh im Jahr (ausgehend von 305 Melktagen). Daher gilt der Milchviehzuchtkomplex „Roschdestwo“ als Vorbild für die örtlichen Landwirte.
Grams erzählte uns noch, dass er im Alltag keine Probleme hat: Die amerikanischen TV-Kanäle empfängt er via Satellit, und wenn er Lust auf einen Hamburger oder eine Pizza verspürt, bereitet er diese selbst zu oder fährt kurz bei einer McDonald’s-Filiale vorbei, die vor kurzem in Petuschki (ca. 30 km vom Betrieb entfernt) aufgemacht hat.
Übrigens zeigt sich Lorin an traditionellen russischen Suppen (solchen wie die Rote-Bete-Suppe Borschtsch) eher weniger interessiert. Er bevorzugt stattdessen Schaschlik aus Schweinefleisch, usbekischen Pilaw, tadschikischen Lawasch (so etwas wie ein Wrap mit verschiedenen Füllungen).; und die russische Banja (so etwas wie eine Sauna).
Keine Probleme mit der Unterwelt
In den sieben Jahren seines Aufenthalts in Russland hatte Lorin Grams keine Probleme, weder mit den Behörden noch mit der Unterwelt. Wenn er davon in Amerika berichtet, wollen viele nicht glauben, dass in der Kreisverwaltung von Lorin keine Schmiergelder erwartet werden, denn seine amerikanischen Freunde haben viele Geschichten über die allgegenwärtige Korruption der Behörden in Russland gelesen. Lorin glaubt einfach, dass die Fähigkeit, mit den Behörden richtig umgehen zu können, eine Voraussetzung für das Vorankommen in Russland ist.
– Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, selbst die russische Sprache zu sprechen, anstatt sich auf einen Dolmetscher zu verlassen, – rät Lorin. Es ist ja auch gar nicht so schwer. Als ich nach Russland kam, konnte ich außer „Ja“ und „Nein“ nichts anderes auf Russisch sagen. Am Ende hatte ich es satt, auf Dolmetscher angewiesen zu sein, und lernte die russische Sprache innerhalb eines Jahres. Und wenn mir etwas nicht einfällt, frage ich bei meinen Kindern nach, für die das Russische zur zweiten Muttersprache geworden ist.
Die Kinder von Lorin haben sich mit den Dorfkindern angefreundet und besuchen zurzeit eine normale russische Schule.
Was einen in Russland nervt
– Es sind vor allem alle möglichen statistischen Berichte, die einem den letzten Nerv rauben können. In den USA gibt es so eine Bürokratie überhaupt nicht! Denn wenn es sich um dein Unternehmen handelt, bist du selbst dafür verantwortlich, dass alles seinen richtigen Weg geht, d.h. entsprechend der Gesetzgebung, die für alle gilt, – meint Lorin. Hier dagegen werden wir andauern von verschiedenen Behörden kontrolliert: von den Behörden für Umwelt, für Arbeitsschutz, für Brandschutz usw. Und jede Behörde interpretiert die Gesetzgebung anders. Eigens für die Kommunikation mit den Beamten mussten wir daher sogar jemanden in der Funktion eines Generaldirektors einstellen, der nichts anderes tut, als sich mit den Behörden auseinanderzusetzen und ihnen die entsprechenden Berichterstattungen zu liefern. Außerdem mussten wir auch zusätzliche Mitarbeiter einstellen, die sich um die gegenüber den Behörden rechenschaftspflichtigen Vorgänge kümmern.
Wjatscheslaw Gusew, Leiter des Bereichs für Landwirtschaft und Nahrungsmittel und der stellvertretende Gouverneur des Wladimirer Gebiets:
– John Maxwell Kopiski war einer der ersten ausländischen Bürger, die im Wladimir Gebiet einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb gründeten. Seiner entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Viehzucht-Großkomplex. Die Produktionsautomatisierung, der Einsatz von modernen Landwirtschaftsmaschinen sowie die fachmännische Personalführung erlauben es ihm, ein Minimum an Arbeitskräften einzusetzen. Die OOO „Roschdestwo“ (die Gesellschaftsform der OOO entspricht in etwa der der GmbH; Anmerkung der Übersetzerin) nimmt an dem bedeutenden nationalen Projekt der Russischen Föderation – „Entwicklung des Agrar-Industrie-Komplexes“ – teil und hat Anspruch auf finanzielle und rechtliche Unterstützung des russischen Staates. Im Rahmen dieses nationalen Projektes wurde zum Beispiel die Fertigstellung des zweiten Melkplatzes realisiert.Die Russische Föderation als Ganzes und das Wladimirer Gebiet im Speziellen sind sehr daran interessiert, den Zufluss ausländischer Investitionen in alle Wirtschaftsbranchen zu ermöglichen, unter anderem auch in die Landwirtschaft. In unserer Region gelten die gesetzlichen Normen, die Investoren bestimmte Vorteile und eine bevorzugte Behandlung gewähren. Heutzutage werden im Agrar-Industrie-Komplex der Region verschiedene große Investitionsprojekte mithilfe von russischem Kapital realisiert. Sollten wir diesbezüglich ein Angebot von ausländischen Unternehmern bekommen, die bereit sind, ihr eigenes Unternehmen bei uns zu gründen, werden wir dieses prüfen und – da bin ich ganz sicher – uns auf für beide Seiten attraktive Bedingungen einigen.
In Amerika verwaltet laut Lorin jeder Landwirt seinen eigenen Betrieb im Alleingang; Tierärzte und Buchhalter werden nur bei Bedarf hinzugezogen und bedienen auf diese Weise Dutzende von Betrieben gleichzeitig.
Demzufolge braucht man beispielsweise für 3.500 Stück Vieh in den USA nur die Hälfte oder sogar nur ein Drittel des Personals, – sagt Lorin. Auch die Baustoffe sind in Russland viel teurer als in Amerika. Bei uns in Michigan lässt sich so ein Komplex für ein Drittel des Preises bauen!
Lorin findet es gut, dass man den Bürokraten und den bestechlichen Beamten in Russland endlich den Krieg erklärt hat. Er hat mit Begeisterung den Plänen von John Kopiski zugestimmt, im Dorf „Roschdestwo“ einen zusätzlichen Milchviehzuchtkomplex und eine Fleischfabrik samt Mastkomplex für die Kälber zu errichten. Lorin findet es erstaunlich, dass Russland mit seinem Riesenterritorium immer noch auf Importe aus dem Ausland angewiesen ist.
– Russland hat das Potential, selbst zu exportieren, – meint Lorin überzeugt. Unser Komplex „Roschdestwo“ allein verkauft täglich 50 Tonnen Milch und hat auch in der nahen Zukunft vor, 700 Tonnen Fleisch pro Jahr zu liefern.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Vielzahl von Moskauer Steak-Häusern nach „Roschdestwo“-Fleisch Schlange stehen werden, so wie es jetzt bereits mit der Milch passiert: Es gehen jeden Tag 2,5 t Milch in den Einzelhandel. Die restliche Milch wird an den Großhändler „Wimm-Bill-Dann Foods“ (WBD Foods), das zurzeit führende Nahrungsmittelunternehmen in Russland, verkauft.
Eine Menge Pläne
Der Komplex „Roschdestwo“ verkauft täglich 50 Tonnen Milch und hat auch in der nahen Zukunft vor, 700 Tonnen Fleisch pro Jahr zu liefern.
Lorin Grams träumt davon, die Anzahl seiner Kühe auf 10.000 Stück zu steigern, damit er jeden Tag 150.000 Tonnen Milch verkaufen kann. Und dieses Vorhaben scheint tatsächlich realisierbar zu sein, denn im Gegensatz zu Amerika, wo die Landpacht sehr teuer ist, ist in Russland vieles günstiger und einfacher. Sogar nicht weit von Moskau gibt es noch viel unerschlossenes Land.
– Im Hinblick auf die globalen Lebensmittelengpässe wird diese Situation allerdings nicht sehr lange währen, – meint Lorin. Früher oder später werden diese leer stehenden Flächen nicht nur von den Moskauern, die dort ihre Ferienhäuser, ihre Datschen, bauen wollen, sondern auch von den großen ausländischen Investoren belegt werden, welche hier ihre Produktionsunternehmen gründen werden.