Und dann kam die Krise…
– Ich kam 1994 zum ersten Mal nach Russland, – erzählt Jeroen Ketting. Ich war damals 23 Jahre alt und studierte Jura an der Universität Leiden. Ich wollte mir mal das Land anschauen und verbrachte zwei Monate in Russland. Als ich nach Holland zurückkehrte, bekam ich das Angebot, die Filiale eines holländischen Consulting-Unternehmens in Moskau zu leiten. Ich kehrte 1996 nach Holland zurück, bleib aber nicht lange. Bereits vor meinem Diplom bekam ich eine Einstellung beim holländischen Maschinenbau-Konzern „Stork“. Man plante, ein paar Jahre Arbeitserfahrungen in Holland zu sammeln und dann in die russische Filiale zu wechseln. Aber das Schicksal wollte es anders: In die Moskauer Filiale des Konzerns kamen Prüfer der Steuerbehörde, der Filialleiter war in dieser Zeit im Safari-Urlaub in Kenia und außer ihm gab es keinen, der dieses Problem lösen konnte. So wurde ich zum Filialleiter befördert und gebeten, sofort nach Moskau zu fliegen, um dort die Situation vor Ort zu klären. Aber nach zwei Jahren wollte ich etwas Neues ausprobieren und kam 1998 auf die Idee, ein Call-Center zu eröffnen. Es sollte das erste Call-Center in Russland werden, und ich rechnete mit einem Gewinn zwischen 15% und 20%. Ich fand einen russischen Geschäftspartner, investierte in dieses Projekt bereits 140.000 US Dollar und plante weitere Investitionen von 350.000 US Dollar im ersten Projektjahr. Ich fand erste potentielle Kunden und ein Büro, bestellte Anlagen und Software… Und dann kam die Krise. Die Kunden sprangen ab, und ich konnte gerade noch so meine Bestellungen stornieren.
Ich fand die ersten potentiellen Kunden und ein Büro, bestellte Anlagen und Software… Und dann kam die Krise.
Mundpropaganda
– Nach dem Default im August 1998 haben viele Ausländer Russland verlassen, – erinnert sich der Chef von „Lighthouse“. Aber ich habe beschlossen zu bleiben. Man musste irgendwie Geld verdienen. Was aber konnte ich, außer mich selbst und meiner Kenntnisse anzubieten? Ich konnte etwas Russisch, obwohl ich nie Russischunterricht hatte. Ich kannte mich auch etwas mit den Besonderheiten des russischen Business aus; gleichzeitig konnte sich in Holland kaum jemand den russischen Markt vorstellen. So war ich (und bin es immer noch) unter ihnen wie ein Einäugiger unter den Blinden. Die Idee, die ich auf dem Markt anbot, war so etwas wie ein Consulting-Business. Ich habe einfach meine Zeit verkauft.
Zuerst habe ich das freiberuflich gemacht. Ich hatte auch kein Büro und arbeitete direkt von zuhause aus. Ich hatte dabei viele Rollen – die eines Assistenten, eines Fahrers und des Direktors. In Moskau fuhr ich Niva, nach Holland kam ich alle sechs Wochen und fuhr dort einen kleinen gemieteten Renault, um die dortigen Unternehmen zu besuchen. Innerhalb von zehn Tagen hatte ich zwanzig Termine. Ich erzählte den Chefs dieser Unternehmen, wie schnell der russische Markt wächst und welche Perspektiven er hat. Ich wurde wie ein komischer Kauz angesehen: Ein Holländer, der in Russland lebt! Aber das Interesse der Anderen hat mir oft geholfen, denn ich wurde empfangen und angehört.
Man hielt mich für einen Träumer: Ein Holländer, der in Russland lebt. Aber das Interesse der Anderen hat mir sogar geholfen.
Ich traf mich in erster Linie mit den Direktoren oder Geschäftsführern der Unternehmen, denn wenn man das mittlere Management anspricht, dauert es zu lange, bis etwas konkret umgesetzt wird. Allerdings kamen aus diesen Treffen nicht immer reale Projekte hervor; aus den 20 Treffen wurde nur ein Projekt realisiert. Aber ich ließ mich von den Misserfolgen nicht entmutigen und verabredete mich weiter mit potentiellen Kunden. Nach einer Weile haben die Kunden angefangen, mich zu suchen, weil sie durch Mundpropaganda von mir erfuhren. Und so ging das richtig los. In den zwei Jahren meiner freiberuflichen Tätigkeit habe ich geschafft, etwa 20 Projekte zu realisieren. Viele von ihnen waren sehr erfolgreich. Mit meiner Hilfe kamen nach Russland Unternehmen, die Metalldachziegel, Plastikerzeugnisse und sogar Gummistiefel produzierten. Manchmal konnte ich meinen Kunden aber ihre Projekte auch ausreden. So hatte ich einmal als Kunden einen Großkonzern, der in Russland eine starke Druckindustrie aufbauen wollte. Ich organisierte einige Treffen mit wichtigen Verlegern und Redaktionen in Russland, stellte Marktanalysen an und überprüfte die Gesetzgebungsnormen. Und es stellte sich Folgendes heraus: Die Druckerzeugnisse können steuerfrei nach Russland eingeführt werden, das Papier aber nicht. Die Papiersteuer war ziemlich hoch. Deswegen wäre es unsinnig gewesen, eine große Druckerei in Russland aufzumachen; es war viel günstiger, die Zeitschriften und Bücher irgendwo in Finnland drucken und diese dann nach Russland liefern zu lassen. So ließen meine Kunden von ihrem ursprünglichen Vorhaben ab.
Ich zahle meine Steuern mit einem Lächeln!
– Freiberuflich kann man ziemlich erfolgreich sein, – meint der holländische Unternehmer, der sich sehr gern an seine Start-up-Zeit erinnert. Aber 2001 stand ich vor einer Wahl: Entweder alles so lassen wie bislang oder mein eigenes Unternehmen gründen. Eigentlich habe ich gut verdient – bestimmt nicht weniger als ein Mitarbeiter im mittleren Management eines großen Unternehmens. Ich hatte auch keine großen Ausgaben, weder für Mitarbeiter noch für Miete. Aber ich verlor viel Zeit mit verschiedenen Kleinigkeiten wie kopieren, faxen, Post holen und den Notar besuchen. Außerdem war ich es satt, überall erklären zu müssen, wer ich bin und was ich mache. Wenn ich meine Kunden besuchte, konnte ich mich ihnen weder als Jurist noch als Wirtschaftsprüfer vorstellen. Ich musste ihnen erklären, dass ich ein Consultant bin. Und die meisten Chefs sind nicht besonders begeistert davon, dass ihr Gesprächspartner ein unabhängiger Consultant ist. Sie verlieren sofort das Interesse, und ihr Blick wird glasig. Es ist dann sehr schwer sie davon zu überzeugen, dass du ihre Aufmerksamkeit verdienst.
Es gibt auch wirklich schwierige Situationen: Man trifft sich gerade mit einem Kunden, und ein anderer ruft in dieser Zeit an. Man kann zu diesem Zeitpunkt einfach nicht mit ihm telefonieren. In solchen Fällen erweist sich ein Assistent als unentbehrlich. So habe ich bereits während meiner Arbeit von zuhause aus zwei Assistenten nacheinander eingestellt. Und dann habe ich beschlossen, meine eigene Firma zu gründen.
Heute beschäftige ich 15 Mitarbeiter und verdiene etwa das Doppelte von dem Gehalt als Freiberufler. Außerdem habe ich heute auch weniger Sorgen, denn ich kann viele Probleme an meine Mitarbeiter delegieren und selbst tun und lassen, was ich möchte und mich nicht mit irgendwelchen Kleinigkeiten aufhalten. Ich hätte auch noch weiter wachsen können, aber darauf habe ich momentan keine Lust. Heute sind wir ein kleines Team und fühlen uns wie eine Familie. Jeder von uns weiß sehr genau, was er zu tun hat; alle Probleme werden gemeinsam gelöst. Wenn hier aber zwischen 30 und 40 Mitarbeiter tätig wären, würde dies das Ende meiner persönlichen Freiheit bedeuten: Ich hätte hier Tage und Nächte präsent sein müssen, unsere Meetings moderieren sowie alles allein überwachen und überprüfen. So etwas ist einfach nichts für mich…
Die Tätigkeit eines kleinen Unternehmens in Moskau ist etwas ganz Besonderes, denn man hat hier eine besondere Einstellung zu den Klein– und mittelständischen Unternehmen. In Holland würde man das „Lighthouse” als ein eher mittelständisches Unternehmen einstufen, hier sagt man mir dagegen: “Jeroen, was machst du für einen Quatsch, finde dir lieber eine Stelle bei einer Bank oder sonst wo.“
Es ist schwer, im Zentrum Moskaus ein kleines und günstiges Büro zu finden. Wenn wir zum Beispiel ein Büro innerhalb des Gartenrings bzw. des Rings „B“ (russ. „sadowoje kolzo“) nehmen würden, wäre das eine Wohnung mit 150 m2. Dafür hätten wir zwischen 400 und 500 Euro pro m2 pro Jahr zahlen müssen, was noch ein sehr guter Preis ist. Wenn ich davon aber in Holland berichte, werde ich mit großen Augen angeguckt. Denn dort gibt es keine so teuren Büros. Für 300 Euro könnte man dort ein marmor– und goldverziertes Büro im teuersten Business-Zentrum der Stadt im 20. Stockwerk mieten.
Es ist schwer, im Zentrum Moskaus ein kleines Büro zu finden, es kostet zwischen 400 und 500 Euro pro m2 und Jahr. Wenn ich davon in Holland berichte, werde ich mit großen Augen angeguckt.
Die Mitarbeiter-Gehälter in Moskau sind nicht geringer als in Europa und in einigen Einzelfällen sogar höher. Und es ist ziemlich schwer, einen guten Spezialisten zu finden. Der einzige Bereich, wo man in Russland noch sparen kann, ist die Einkommensteuer. Seit 1995 zahle ich meine Steuern in Russland und bin vielleicht der Einzige, der die Einkommensteuer mit einem Lächeln bezahlt. In Russland beträgt diese 13%; in Holland hätte ich zwischen 55% und 60% zahlen müssen.
Universal Business-Soldier
– Die Unternehmen in Europa haben nicht genügend eigene Märkte, – meint Jeroen Ketting. Man nehme an, Sie gründen Ihr Unternehmen in Holland. Wenn Ihr Business erfolgreich verläuft, werden Sie nach drei bis vier Jahren überlegen müssen, welche neuen Märkte Sie noch erschließen können. Und Russland ist das nächste Land, wo der Konsum in einem rasanten Tempo wächst. Sogar in der Krise finden Sie kein vergleichbares Wachstum in Europa, eventuell noch in Brasilien. Das E-Commerce und die energiesparenden Technologien haben die meisten Perspektiven.
Viele Ausländer, die nach Russland kommen, erleben einen Schock. Die hiesige Realität unterscheidet sich einfach viel zu sehr von der, die sie kennen. Und sie brauchen deshalb jemanden wie mich und unser Unternehmen, damit sie nicht gleich aufgeben und zurückkehren. Wir unterstützen sie und zeigen ihnen die verschiedenen Perspektiven auf. Zum Schluss verstehen sie, dass sie hierher nicht umsonst gekommen sind.
Sogar in der Krise finden Sie in Europa kein Wachstum wie in Russland. Das E-Commerce und die energiesparenden Technologien haben die meisten Perspektiven.
Ich erinnere mich häufig an einen Fall. Vor etwa sechs Jahren haben wir an einem Projekt im Rahmen der Anlagenlieferung für ein Brotbackwerk in Tscheljabinsk teilgenommen. Als wir zusammen mit holländischen Spezialisten das Werk besichtigten, waren sie schockiert. Es war wie im vorletzten Jahrhundert: Alle Mitarbeiter waren mit Mehl überschüttelt, in den Räumen flog Staub und die Technologien und Anlagen waren 60 Jahre alt. Meine Landsleute waren geknickt und dachten, dass aus diesem Projekt wohl nichts mehr werden würde. Aber dann beschlossen wir, weiter zu machen: Wir stellten die Anlagen in einer kleinen Werkshalle auf, starteten die Produktionslinie u nd machten aus dieser Werkshalle eine Miniversion von Holland. Und siehe da: Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem russischen Unternehmen, das das „Mini-Holland“ betrieb, ein viel größeres und mächtigeres Unternehmen als das, welches ihm die Anlagen lieferte.
Oft wenden sich an uns auch Großunternehmen, die ihre Filialen in Moskau eröffnen wollen. Und wir übernehmen die ganze Organisation: die Suche nach einem geeigneten Raum, Renovierungen, die Einrichtung der Anlagen und der Buchhaltung sowie die Einstellung von Personal. Also das Gesamtpaket bei einer Filial-Gründung. Früher haben wir dafür Subunternehmen beauftragt, aber wegen der mangelnden Qualität ihrer Dienstleistungen ließen wir das dann doch lieber sein. In den letzten Jahren kümmern wir uns um die Realisierung aller Prozessphasen selbst. Wir sind eine Art „Universal Soldier“, der alles kann. Erst vor Kurzem haben für ein Büro für „booking.com” vorbereitet, ein Unternehmen für Hotelreservierungen im Internet. Es kostete sie 75.000 US Dollar.
3 RATSCHLÄGE VON JEROEN KETTING
Betrachten Sie Russland und das hiesige Business nicht mit den Augen eines Europäers. Lernen Sie, die hiesige Realität mit den Augen eines Russen zu sehen.
Lernen Sie die russische Sprache. Sie werden Basiskenntnisse des Russischen brauchen. Kommunikationsprobleme sind ein massiver Störfaktor für Business hier.
Schaffen Sie um sich herum Ihren eigenen Mikrokosmos. Finden Sie Geschäftspartner, Ratgeber und Freunde, und pflegen Sie gute Beziehungen zu ihnen. In Russland sollte man sich nicht auf die Regierung und die Polizei verlassen. Verlassen Sie sich nur auf die Menschen, die Ihnen nahe stehen.
Unsere Kunden kommen aus der ganzen Welt: Türkei, Belgien, Luxemburg, Brasilien, USA, Malta etc. Wir bedienen viele internationale Finanzorganisationen wie zum Beispiel die Europäische Bank für Rekonstruktion und Entwicklung. Und wir bekommen auch Aufträge von staatlichen Organen in europäischen Ländern: zum Beispiel holländische und belgische Ministerien und eine brasilianische Exportagentur. Wir erhalten sogar Aufträge von der irischen Regierung, damit wir irische Unternehmen auf dem russischen Markt fördern. All die letzten Jahre haben wir sehr profitabel gearbeitet und brachten Dutzende von Unternehmen nach Russland. Zwischen 2001 und 2008 war eine Wachstumsphase. Nach der Krise war es schwer, aber wir machten weiter Gewinne. In den letzten drei Jahren hat sich aber die Business-Struktur etwas verändert: Wir haben mehr Kunden, aber kleinere Projekte. Unternehmen fürchten sich vor der neuen Krisenwelle und bevorzugen, nichts Großes zu unternehmen.