- Wann haben Sie Russland zum ersten Mal besucht und aus welchem Grund?
- Meine Heimatstadt Sheffield ist die Partnerstadt der ukrainischen Stadt Donezk. Beide Städte sind große Industrie- und Bergbauzentren. Als ich 16 Jahre alt war, verbrachte ich mit meiner Familie im Rahmen eines Zusammenarbeitsprogramms der beiden Partnerstädte und der Einladung unserer russischer Brieffreunde folgend einen zweiwöchigen Urlaub in der Ukraine. Dabei haben wir nicht nur Donezk, sondern auch die Krim besucht. So lernte ich zum ersten Mal Osteuropa und die russischen Menschen kennen. Damals war ich mit meinen 16 Jahren ein sehr sensibler Jugendlicher. Ich interessierte mich für alles, was russisch war – Sprache, Musik und Menschen. Dann zogen unsere russischen Freunde von Donezk nach Sankt Petersburg über. Und da ich noch ein freies Jahr vor meinem Studienanfang hatte, luden sie mich zu sich nach Sankt Petersburg, und ich habe mir diese Chance natürlich nicht entgehen lassen.
Über Alex JudeEr wurde im Norden Englands, in der Stadt Sheffield geboren. In seiner Kindheit ging er mit seinen Eltern häufig auf Reisen. Als Jugendlicher verbrachte er zwei Wochen in der Ukraine. Er besuchte Russland zum ersten Mal im Jahre 1999, kurz vorm Beginn seines Studiums an der Universität Manchester. Er absolvierte sein Studium im Fach Linguistik und reiste nach seinem Studienabschluss nach Sankt Petersburg. In der Stadt verbrachte er sieben Jahre. 2010 zog er um nach Omsk. Dort arbeitet er als Übersetzer und Englischlehrer. 2012 dann die Eröffnung seiner eigenen Online-Sprachschule „OTUK” Online Teachers UK .
- Und warum zogen Sie dann ganz nach Russland um?
- Ich habe mich in Russland verliebt: Ich las russische Bücher, hörte russische Musik und lernte die russische Sprache an einer Abendschule nach den Seminaren in der Universität. Ich sparte Geld, um jedes Jahr in den Sommerferien meine Freunde in Sankt Petersburg besuchen zu können. Es waren unvergessliche Momente! Deswegen wusste ich nach meinem Universitätsabschluss 2002 ganz genau, dass ich irgendwann einmal in Russland leben würde.
Ich habe mich in Russland verliebt: Ich las russische Bücher, hörte russische Musik und lernte die russische Sprache an einer Abendschule nach der Uni.
- Wie waren Ihre ersten Eindrücke von Sankt Petersburg? Hat sich die Stadt im Laufe der Jahre verändert?
- Sankt Petersburg ist eine traumhafte Stadt. Es liegt ein Zauber in der Architektur und in der Atmosphäre seines historischen Zentrums. Ganz am Anfang war ich von den so vielen Kontrasten und Widersprüchlichkeiten dieser Stadt sehr beeindruckt: wunderschöne historische Gebäude und abbröckelnde Betonblöcke an der Peripherie, eine Kathedrale mit einem Museum für Atheismus im Kellerraum und Schönheiten in Pelzen, die auf den verschneiten Gehwegen in hochhackigen Schuhen stolzieren. Ein solches Bild ist sehr ungewöhnlich für einen, der sich eher mit den britischen Regeln, der Infrastruktur und Logik auskennt. Alles war neu für mich, und ich lernte jeden Tag etwas dazu. Jeder Tag war anders als der vorherige. Vor Kurzem war ich wieder in Sankt Petersburg auf meinem Wag nach Großbritannien. Obwohl diese Stadt etwas hat, was sich nie ändern wird, gehen die Veränderungen des letzten Jahrzehnts auch an ihr nicht spurlos vorbei. Die erfolgreiche Mittelschicht nahm zahlenmäßig zu. Sankt Petersburg war für Russland schon immer ein Fenster nach Europa, und diese Funktion behält es auch weiterhin bei.
- Weshalb zogen Sie dann nach Omsk in Sibirien?
- Kurz zusammengefasst: der Liebe wegen. Ich wurde eines Tages zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Und obwohl mir gar nicht nach einer Party war, ging ich trotzdem hin. Dort lernte ich ein Mädchen aus Omsk kennen. Den ganzen Abend lang haben wir miteinander geredet. Und nach ein paar Tagen flog ich nach England und sie in ihre Heimat Sibirien. Innerhalb der nächsten fünf Monate haben wir einander jeden Tag geschrieben und kamen uns so näher. Und einmal fragte ich sie, was sie davon halten würde, wenn ich zu ihr nach Omsk käme. Sie war natürlich etwas sprachlos. Aber wenn man etwas will, muss man es mit beiden Händen festhalten. So setzte ich mich damals in den Flieger nach Omsk, und heute habe ich eine russische Braut.
- Wodurch unterscheidet sich die russische Provinz von einer russischen Hauptstadt? Ist die Einstellung gegenüber den Ausländern in der Provinz anders als in der Hauptstadt?
- Man darf nicht aus den Augen lassen, dass Russland das größte Land der Welt ist. Daher ist es in sich auch sehr unterschiedlich. Ehrlich gesagt, war ich damals nicht besonders gut vorbereitet auf meinen Umzug von Sankt Petersburg nach Omsk. Dieser brachte viele Überraschungen mit sich. Es schien, als ob ich in einer Zeitmaschine zehn Jahre zurück gereist wäre. Die russische Provinz verfügt nicht über solche finanziellen Mittel wie die russischen Großstädte. Dies zeigt sich auch an der Infrastruktur und am durchschnittlichen Einkommen der Bevölkerung. Moskau und Sankt Petersburg sind nicht repräsentativ für ganz Russland.
Die Menschen in der Provinz sind natürlicher, konservativer und insgesamt unglaublich freundlich.
Ich glaube, die Menschen in der Provinz sind natürlicher, konservativer und insgesamt unglaublich freundlich. Für einen hellhäutigen, Englisch sprechenden Ausländer ist es kein Problem, hier schnell Freunde zu finden. Doch die geographische Entfernung der Provinz von den Großstädten führt zu einigen Vorurteilen in Bezug auf Nationalität, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Man mag das sehen wie man will, aber eins ist dabei klar: Die westliche „political correctness“ hat noch nicht alle Ecken in Russland erreicht, und die Ausländer sollten damit einfach rechnen. Vor allem in Bezug auf die älteren Russen.
Aber eigentlich werden die Ausländer in Russland gemocht. Sie sind in der Minderheit und genießen dadurch einen eher privilegierten Status. Jeder Ausländer würde Ihnen auf die Frage, weshalb er in Russland ist, antworten, dass die lokale Bevölkerung der Hauptgrund dafür ist. Die Russen sind an Fremdsprachen und auch an Kontakten mit Ausländern sehr interessiert, denn so hat man ganz nebenbei gute Sprachpraxis. Außerdem wollen die Russen auch einfach wissen, wie es sich so in einem anderen Land lebt. Die Engländer sind da ganz anders. Sie interessieren sich in der Regel kaum für Fremdsprachen. Sie glauben, dass man, wenn man Sprachschwierigkeiten in Frankreich hat, das einfach durch lauteres Sprechen lösen kann.
- Wie kamen Sie auf die Idee, Ihr eigenes Unternehmen zu gründen? Und wie geht es Ihnen dabei?
- Ich bin ein Linguist und sozialwissenschaftlicher Anthropologe, daher haben mich Sprache und Kultur schon immer ganz besonders interessiert. Mit dem eigenen Englischunterricht fing ich 1999 an, als ich zum ersten Mal nach Russland kam und nicht genau wusste, was ich tun soll. Einige Zeit später machte ich es meinem Vater nach, und das Unterrichten wurde zu meinem Beruf. Bevor ich aber mein eigenes Business gestartet habe, unterrichtete ich eine Zeit lang an zwei staatlichen Hochschulen und an einigen privaten Sprachschulen. Zudem war ich als Freiberufler tätig. Jeden Tag musste ich zwischen drei und vier Adressen in der Stadt besuchen, und unterwegs verbrachte ich mehr Zeit als in den Unterrichtsräumen. Dieser Umstand zwang mich dann über eine Alternative nachzudenken.
Ein Freund von mir bat mich eines Tages, seinen Kollegen per Skype zu unterrichten. Ich wollte es ausprobieren und sagte zu. Die ersten Stunden per Skype verliefen sehr erfolgreich: Mein Schüler hat sein Englisch verbessert und bekam daraufhin ein sehr gutbezahltes Jobangebot in Singapur. Dann startete die Mundpropaganda: Meine Schüler empfahlen mich ihren Freunden und Kollegen in verschiedenen russischen Städten weiter. Das Reisen zu meinen Schülern an unterschiedliche Adressen hat mich nicht mehr gestört, und ich konnte somit mein Unterrichtskontingent vergrößern, wodurch ja auch mein Gehalt insgesamt stieg. Als nächster logischer Schritt erschien mir die Idee, mein eigenes Business-Projekt zu starten und dem Markt nicht mehr mich selbst, sondern meine Marke zu bieten.
Dann startete die Mundpropaganda: Meine Schüler empfahlen mich ihren Freunden und Kollegen in verschiedenen russischen Städten weiter.
Heute beschäftigt das Unternehmen OTUK ein kleines hochprofessionelles Team von Englischlehrern. Meine Hauptaufgabe dabei ist, mein Business zu managen. Wir haben vor, mit Beginn des kommenden Semesters zu expandieren. Wir orientieren uns dabei hauptsächlich auf den russischen Markt und bieten individuelle Unterrichtsstunden für Karrieremenschen in den russischen Großstädten an.
- Wie teuer sind Ihre Dienstleistungen?
- ₤15 pro Stunde.
- Sie leben bereits seit einer längeren Zeit in Russland. Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach die Russen von den Westeuropäern, zum Beispiel von den Engländern?
- Die Touristen aus dem Westen, die nach Russland kommen, beschweren sich häufig darüber, dass die Russen zu selten lächeln. Dies wird von ihnen als Unfreundlichkeit und mangelnde Gastfreundschaft der Russen interpretiert. Doch man muss dabei unbedingt unterscheiden, wie sich die Russen in der Öffentlichkeit und in ihrem privaten Umfeld geben. In der russischen Kultur fungiert das Lächeln nur selten als ein Zeichen der sozialen Etikette. Das Lächeln dient für die Russen viel mehr als eine Reaktion, der Ausdruck einer bestimmten Emotion. Daher können die Russen, die auf der Straße einen eher mürrischen und distanzierten Ausdruck vermitteln, auf dem Arbeitsplatz oder auf einer Party sehr freundlich und sympathisch sein.
Ich erinnere mich daran, dass während meiner ersten Reise nach Russland ein guter Freund von mir mich einmal fragte, wieso ich so viele Fragen stelle. Denn kaum waren wir draußen, fing ich schon zu fragen an: „Wo? Wann? Mit wem? Wie viel? etc.“ Und ich plante alles im Voraus in Details, sogar meinen Samstagabend. Und einmal hatte ich die Erkenntnis, dass nicht alles im Leben planbar sein soll. Die Russen sind da viel flexibler, sie passen sich leichter an die Veränderungen in ihrem Leben an. Wenn ich meine russischen Freunde bei ihrem Englandbesuch frage, ob sie einen Kulturschock hätten, antworten sie mit „nein“. Die Russen kann man mit nichts überraschen!
Wenn ich meine russischen Freunde bei ihrem Englandbesuch frage, ob sie einen Kulturschock hätten, antworten sie mit „nein“. Die Russen kann man mit nichts überraschen!
Ich bin überzeugt, dass die Sprache einen wichtigen Beitrag zum Begreifen Russlands liefert. Im Russischen gibt es viele Synonyme für das Lexem „Freund“ und noch viel mehr Synonyme zur Bezeichnung von Verwandschaftsbeziehungen. In der russischen Kultur spielen Freundschaft und Verwandschaftsbeziehungen eine sehr wichtige Rolle. Und nicht zu vergessen ist auch die Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit bzw. des Kollektivismus in Russland. Die Russen verwenden häufiger „wir“ als „ich“. Die Russen teilen gern und haben eine lockerere Einstellung zu materiellen Gütern. Sie sind großzügig und zählen nicht jeden Cent, wenn es um ihre Freunde und Verwandten geht. Die Russen lehnen Raffgier und Egoismus ab und appellieren häufig an das „Gewissen“. Ich fand es sehr komisch, als man eine Katze, die die Schnürsenkel eines nichts ahnenden Gastes attackierte, als „gewissenlos“ bezeichnet hat. In Russland müssen sogar die Katzen ein Gewissen haben!
Die Engländer sind da ganz anders. Wir sind diplomatisch und weichen gerne aus, die Russen sagen dagegen alles ganz direkt. Die Engländer zählen ihr Geld viel sorgfältiger und verlassen sich eher auf sich selbst als auf die Solidarität der anderen. Wir sorgen uns um unser Image und verteidigen aggressiv unsere Rechte. Die Russen verlassen sich dagegen viel mehr auf ihr Schicksal und verhalten sich dem Leben gegenüber lockerer. Wir können ohne Regeln, ohne Gesetze u.ä. nicht leben, die Russen versuchen dagegen jegliche Regeln wenn möglich zu umgehen und freuen sich ihrer Freiheit. Für die Engländer zählt in erster Linie das Herz und für die Russen die Seele. Die Liste der Unterschiede zwischen den beiden Völkern lässt sich noch lange fortsetzen.
Die Engländer sind da ganz anders. Wir sind diplomatisch und weichen gerne aus. Die Russen sagen dagegen alles ganz direkt.
Aber wir haben auch viele Gemeinsamkeiten. Sowohl Großbritannien als auch Russland waren früher große Imperien und Supermächte. Heute genießen wir einen bescheideneren Status, doch im jeweiligen nationalen Bewusstsein ist die Vorstellung davon, dass man „der beste“ ist, noch fest verwurzelt. Und auch wenn wir uns einmal über unsere Länder empören oder diese kritisieren, sind wir in Wirklichkeit ganz stolz auf unsere historischen Errungenschaften und unsere jeweilige reiche Kulturtradition. Und beide Völker betrachten die amerikanische Kultur mit einem leicht ironischen Lächeln auf den Lippen, trotz Anerkennung ihrer nationalen Errungenschaften. Außerdem schätzen wir in gleichermaßen ein Pint Ale und ein Glas Wodka.
- Wie verbringen Sie Ihre Freizeit in Omsk?
- Mit meinen Freunden: Bei einem Zusammenkommen an einem Tisch mit einer Flasche Cognac oder im Sommer bei einem Picknick und Barbecue am Flussufer.
- Würden Sie Omsk zu einem der gut entwickelten Kulturzentren Russlands zählen?
- Noch nicht, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Von hier aus ist es zum europäischen Teil Russlands noch ziemlich weit, und es kommen hierher nur selten Stars der Hauptstadtbühne. Es gibt hier natürlich einige Museen und Kunstgalerien, doch die Kulturlandschaft von Omsk ist nicht zu vergleichen mit der von Moskau oder Sankt Petersburg. Doch wenn sie in Russland das echte Leben erleben möchten, werden Sie es in Omsk ganz sicher vorfinden.