– Nach meiner Entlassung wurde mir klar, dass in Italien eine neue Stelle zu finden, so gut wie unmöglich war. Meine Frau und ich holten uns Auskünfte ein, ließen uns beraten und kamen letztlich zu dem Schluss: Sicher ist die Wirtschaftskrise global, doch wird sie in Russland niemals die Ausmaße erreichen wie in Italien. Und in einer so großen Stadt wie Moskau waren die Möglichkeiten, seine Fähigkeiten sinnvoll zur Anwendung zu bringen einfach, um ein Vielfaches größer. Der Plan war recht simpel: Den Höhepunkt der Krise in Moskau verbringen und dann zurückkehren. Doch wie sie sehen, sind wir bis heute hier.
Über Brunel International N.V.
Die Firma Brunel International N.V. wurde 1975 vom niederländischen Ingenieur Jan Brand gegründet. Die Firma ist spezialisiert auf die Auswahl qualifizierten internationalen Personals für Öl-, Gas- und Finanzunternehmen, Unternehmen aus dem Bereich der Telekommunikation, des Maschinenbaus, der Pharmazie. Heute sind die über 11.000 Mitarbeiter von Brunel International in mehr als 40 Ländern tätig. Die Firma hat mehr als 100 Repräsentanzen. Der Jahresumsatz übersteigt 1,2 Mrd. EUR. In Russland gibt es Filialen von Brunel International in Moskau, Sankt Petersburg, Irkutsk, Novosibirsk, Nowy Urengoi und Jushno-Salachinsk. Die Moskauer Niederlassung ist mit 30 Mitarbeitern (zum Großteil Moskowiter) die größte.
– Wann sind sie hierhergekommen?
– Im November 2009.
– Und haben Sie direkt Arbeit gefunden?
– Ja, praktisch sofort. In der Personalagentur Brunel.
– Worin bestehen Ihre Aufgaben?
– Ich berate bei der Auswahl von Personal. Die Firma verfolgt zwei Wege. Wir suchen Kandidaten für das Middle- und Top-Management. Neben der üblichen direkten Zusammenarbeit mit den Kunden, wo wir einen Spezialisten ausfindig machen und der Kunde ihn dann in seinen Mitarbeiterstab aufnimmt, bewegen wir uns auch viel im Bereich des Outstaffing. Dies bedeutet, dass wir selbst den Arbeitnehmer anstellen, sein Gehalt zahlen und ihn dann sozusagen an unsere Kunden ausleihen. Auf diesem Gebiet zählt Brunel zu den führenden Personalagenturen weltweit. In Russland sind wir die Nummer 1. Wir haben hier mehr als 500 solcher Mitarbeiter, vor allem im Öl- und Gassektor. In Russland ist die Ölindustrie unser Trumpf.
– Sie selbst wählen nur für den Ölsektor aus?
– Nicht nur. In meinen Tätigkeitsbereich fallen auch der Einzelhandel, Engineering, der Bausektor und die industrielle Produktion. Meine Arbeit ist einerseits einfach, andererseits sehr schwierig. Nach außen besteht sie hauptsächlich in der Kommunikation mit Menschen, Telefonate. Doch muss man sich mit der schwierigsten aller Ressourcen auseinandersetzen - mit der menschlichen. Jeder Kandidat hat seine eigene Mentalität und seine Eigenheiten, seine Art, Dinge zu beurteilen und mit Unerwartetem umzugehen. Und es ist nicht immer leicht, Spezialisten und auftraggebende Firma voneinander zu überzeugen, zusammenzubringen und „zu verheiraten“.
Man muss sich mit der schwierigsten aller Ressourcen auseinandersetzen - mit der menschlichen. Jeder Kandidat hat seine eigene Mentalität und seine Eigenheiten.
– Die Auftraggeber sind in der Regel große Firmen?
– Muss nicht sein. Ich habe auch schon leitende Angestellte für mittlere und sogar kleine Firmen ausfindig gemacht.
– Sucht die Moskauer Niederlassung von Brunel Personal nur in Russland oder auch in anderen Ländern?
– Prinzipiell weltweit. Die klare Mehrheit der Kandidaten finden wir aber schon in Russland.
– Wie läuft so eine Suche ab?
– Wir haben eine Menge von Hilfsmitteln zur Verfügung. Das geht von persönlichen Kontakten über spezialisierte Internet-Portale und die sozialen Netzwerke. Wir haben unsere Datenbank. Uns kann jeder seine Bewerbungsunterlagen zusenden.
– Werben Sie auch Arbeitnehmer von anderen Firmen ab?
– Das kommt schon vor. Wenn wir zum Beispiel den Auftrag haben, einen Buchhalter mit spezieller Erfahrung im Bereich Distributionsnetze Einzelhandel zu finden. Die sitzen in der Regel nicht einfach untätig herum.
– Unterscheidet sich der russische Arbeitsmarkt von den westlichen?
– Er hat schon seine Besonderheiten, und da speziell noch der Moskauer Markt, der sich seinerseits von dem im übrigen Russland unterscheidet. In der russischen Hauptstadt ist, verglichen mit den Arbeitsmärkten in den USA oder Europa, die Fluktuation der Mitarbeiter erheblich höher. Die Menschen verbleiben kürzer an einem Arbeitsplatz als im Westen. Im Ergebnis gibt es auf dem Moskauer Markt stets ein großes Angebot, aber auch eine ebenso große Nachfrage nach Arbeitskräften. Ich selbst nenne Moskau das „Königreich der Bewerbungen“.
In der russischen Hauptstadt ist, verglichen mit den Arbeitsmärkten in den USA oder Europa, die Mitarbeiterfluktuation erheblich höher.
– Wodurch ist diese Fluktuation bedingt?
– Dadurch, dass der Moskauer Arbeitsmarkt noch relativ jung ist. Und durch das starke Bestreben der Moskowiter, schnell Geld zu verdienen und schnell Karriere zu machen. Der Fokus auf eine schnelle Karriere führt zu diesem Phänomen, ebenso wie die geringe horizontale Fluktuation. Nehmen wir einen Senior Accountant. Er wird die Chance wahrnehmen, irgendwo hin als leitender Buchhalter zu wechseln. Ihn jedoch davon zu überzeugen, irgendwo wieder die Stelle eines Senior anzunehmen, wird schwierig sein, insbesondere wenn er dort nicht merklich mehr verdient. Doch sind die Vorteile eines Wechsels nicht immer nur unmittelbar materieller Art. In der anderen Firma können sich auch auf derselben Position bessere Perspektiven für das berufliche und karrieremäßige Vorankommen auftun, oder auch eine reifere, angenehmere Unternehmenskultur. Da gibt es vieles. Nur werden solche Argumente hier noch nicht wirklich wahrgenommen.
In Moskau wird dieselbe Tätigkeit zum Teil besser bezahlt als in Europa.
Damit ist im Übrigen noch eine weitere Besonderheit verbunden: die Kluft zwischen Grad der Professionalität und Höhe der Bezahlung. In Moskau wird dieselbe Tätigkeit zum Teil besser bezahlt als in Europa. Echte Talente sind stets rar, und die Firmen wollen diese selbstverständlich haben. Ein „Gehaltskrieg“ nimmt seinen Anfang. Der eine lockt einen Arbeitnehmer mit einem hohen Gehalt, woraufhin man ihn dort, wo er zurzeit beschäftigt ist, mit Gehaltserhöhungen oder sonstigen Benefits versucht zu halten.
– Was sind typische Forderungen der Bewerber selbst, neben einem hohen Gehalt?
– In Moskau schaut man sehr aufmerksam auf die Lage des neuen Arbeitsplatzes: so nah an zu Hause wie möglich. Was ich vollkommen verstehen kann bei der Ausdehnung Moskaus und den Verkehrsstaus, an die ich mich selbst einfach nicht gewöhnen kann. Überstunden sind nicht sonderlich beliebt. Man zieht einen klar definierten Arbeitstag vor, von dann und dann bis dann und dann.
– Gibt es Schwierigkeiten mit der Arbeitsdisziplin?
– Verzeihen Sie mir, aber ich glaube nicht, dass es mir als Italiener, die wir nicht unbedingt zu den Diszipliniertesten zählen, zusteht, über die Russen in dieser Hinsicht zu urteilen. Aber, nun, bei den Deutschen, Niederländern oder Schweden ist die Disziplin sicher größer...
– Mal abgesehen von der Moral, welche Unzulänglichkeiten sehen ausländische Arbeitgeber bei russischen Angestellten?
– Einige sagen, Ihre Spezialisten hätten nicht die richtige Einstellung gegenüber dem Kunden. Ich glaube, dass das eine Sache der Mentalität ist, die sich bereits ändert, wenn auch langsam. Ich sagte das schon: Der Markt in Russland ist sehr jung. Die Aufmerksamkeit dem Kunden gegenüber, die Befriedigung in erster Linie seiner Bedürfnisse - das sind Dinge, die man erlernen kann. Die Menschen haben aber zurzeit noch eher die Karriere und den momentanen Profit im Blick. Sie haben oft noch nicht verstanden, dass man den Kunden durch Umschmeicheln dazu bringt, zu einem zurückzukommen, und dass dies dann auch Gewinne für die Zukunft birgt.
– Die Qualität der russischen Ausbildung ist nicht Gegenstand von Kritik?
– Das hängt von der Bildungseinrichtung ab. Die besten der Moskauer Hochschulen bringen exzellente Spezialisten hervor.
– Sie sprechen wahrlich kein schlechtes Russisch...
– Naja, es geht. Als ich nach Moskau umgezogen bin, habe ich systematisch begonnen die Sprache zu lernen. Mit Kursen. Dann habe ich aber nach einem Monat Arbeit gefunden, und die Zeit hat dafür nicht mehr gereicht. Wenn ich um zehn, wenn nicht sogar um elf abends nach Hause komme, fehlt mir einfach die Kraft, auch noch Hausaufgaben zu machen.
– Ist das Beherrschen der russischen Sprache für die Bewerber, die Sie vermitteln, ein Muss?
– Heute ist das für viele unserer Kunden Voraussetzung. Man muss sich aber auch eines vor Augen halten: Noch vor ein paar Jahren haben es ausländische Firmen, die in Moskau tätig waren, vorgezogen, leitende Funktionen auf ausländische Arbeitnehmer zu übertragen. Den Russen haben sie nicht sonderlich vertraut. Heute ist man dagegen überzeugt, dass es auf dem Markt hinreichend viele qualifizierte russische Arbeitskräfte gibt, und man sucht diese nun auch für höhere Positionen.
– Wie beurteilen Sie das Business-Umfeld in der russischen Hauptstadt insgesamt?
– In Moskau gibt es viel mehr Möglichkeiten, seine Geschäftskontakte zu erweitern, als in Italien. Dort hat ein Vertreter des Middle Managements ein eher enges und abgeschlossenes Umfeld. Hier sind mehrere Communities ineinander integriert. Ich erhalte ständig Einladungen zu Konferenzen und offiziellen Veranstaltungen. Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Klubs, wie den der Italiener, die in Moskau arbeiten, der Britisch-Russische, die Association of European Businesses, die Amerikanische Handelskammer. Dort kann man treffen, wen man sucht, vom Generaldirektor bis zum Sekretär. Dort finden sich Expats genauso ein wie Russen, und die nicht nur aus der Hauptstadt. Jeder von ihnen hat seine eigene Sicht auf das Leben, auf die Arbeit, hat seine eigene Bewertung der Situation. Das ist sehr interessant, sowohl beruflich als auch menschlich.
In Moskau gibt es viel mehr Möglichkeiten, seine Geschäftskontakte zu erweitern, als in Italien.
– Was machen Sie in Ihrer Freizeit?
– Ich verbringe sie mit meiner Familie. Außerdem liebe ich es, am Wochenende in den Parks von Moskau zu joggen. Das sind meine Lieblingsplätze hier. Wir wohnen in der Nähe des Lenin-Prospekts. Dort gibt es zwei kleine, aber sehr gemütlich angelegte Parks. Ich gehe sommers wie winters laufen. Ich versuche, in Form zu bleiben.
Im Sommer schnappe ich mir dann noch sonntags mein Mountain Bike und radle in den Bitsa-Park oder in die Sperlingsberge. Die Stadt ist dann leer, weil alle auf ihren Datschen sind. Ich fahre am Ufer entlang. Wenn die Sonne scheint, ist Moskau einfach wunderschön. Du fährst auf irgendeine Brücke und genießt das Panorama. Einfach nur schön.
– Sie gehen auch im Winter laufen? Stört Sie die Kälte nicht?
– Ich habe mich daran gewöhnt. Weder Frost noch Schnee gefallen mir besonders. In Rom haben wir nur zwei Jahreszeiten: Frühling und Sommer. Hier hingegen sind es vier. Aber ich habe mich in Moskau bereits an alles gewöhnt - außer an die Staus auf den Straßen. Deshalb finde ich Metro-Fahren sehr gut.
– Sie haben sich in Moskau schon voll eingelebt...
– Ja, es gefällt mir, hier zu leben und zu arbeiten. Obwohl die Stadt keine einfache ist. Sie verändert sich ständig in die eine oder andere Richtung. In den Supermärkten kann man alles kaufen, was man braucht. Die Preise sind natürlich, nun ja... Aber man kann alles finden, was man möchte. Man kann spüren, dass die Hauptstadt reicher geworden ist. Heute ist hier erheblich mehr Geld in Umlauf als noch vor zehn Jahren.
– Was würden Sie jemandem raten, der sozusagen in Ihren Fußstapfen nach Moskau kommt?
– Wer hier arbeiten möchte, dem würde ich empfehlen, bereits vorher Kontakt aufzunehmen mit Landsleuten oder Bekannten, die schon in Moskau leben. Man sollte nicht ohne zuvor klares Ziel hierher kommen. Der Arbeitsmarkt wird immer gesättigter, auch hier in Moskau. Dennoch, wie ich bereits sagte: Möglichkeiten gibt es hier mehr als im Westen. Es kann sich durchaus lohnen, schon vorher mal ein paar Tage hierher zu kommen, um sich umzusehen. Nicht wenige meiner Landleute haben das so gemacht. Haben mich angerufen und sich erkundigt, haben um ein Treffen gebeten und sind dann gekommen. Ich bin immer froh, wenn ich helfen kann. Umso mehr, da mich das auch aus beruflicher Sicht interessiert.