Die Zeiten der Vetternwirtschaft sind vorbei!
– Luc, wie kamen Sie überhaupt nach Russland?
– Ich habe die russische Sprache an der Universität gelernt. Und ich wollte natürlich auch das Land sehen, das das Image einer „großen, kalten und unfreundlichen Region“ hatte. Im Jahre 1991 kam ich nach Russland als Tourist. Und da habe ich auch verstanden, dass man hier gut verdienen kann. Ich gab Englischunterricht und organisierte verschiedene Ausstellungen…
Luc Jones gehört zu der Sorte von Menschen, die in Russland als ausländische Spezialisten oder Manager bezeichnet werden. Er hat die Staatsbürgerschaft Großbritanniens. Er arbeitet – mit kleinen Unterbrechungen – bereits seit 15 Jahren in Russland, von welchen er bereit neun Jahre lang als Partner der Moskauer Filiale der britischen Recruiting-Agentur Antal Russia fungiert. Er weiß ganz genau, wie er einen Top-Manager oder einen Geschäftsführer für ein großes ausländisches, russisches oder internationales Unternehmen findet. Er kennt sich sehr gut mit der russischen Mentalität aus, in dem landesüblichen Nationalslang und in den idiomatischen Redewendungen.
Antal Russia ist ein internationales Personalbeschaffungsunternehmen. Das Unternehmen ist primär spezialisiert auf das Recruiting von Managern aus dem mittleren und höheren Management in verschiedenen Wirtschaftsbranchen. Das Unternehmen wurde 1993 von Tony Goodwin gegründet, der es 2008 an die FiveTen Group weiter verkaufte.
– Und wann kamen Sie zum Recruiting-Business?
– Das mache ich seit 2002: Ich wurde zum Partner in der Filiale der Recruiting-Agentur Antal in Moskau. Und da hatte ich den ersten Kontakt mit der russischen Mentalität. Die von mir eingestellten lokalen Mitarbeiter hatten viele Illusionen in Bezug auf die neue Arbeit. Sie dachten nämlich, dass im Zuge der Einstellung von Fachkräften für die großen ausländischen Unternehmen, die ihre Geschäfte in Russland führen wollen, in erster Linie ihre Nichten und Cousins die gut bezahlten Stellen besetzen könnten. Das konnte natürlich nicht klappen und man mussten den Leuten erklären: „Wir brauchen keinen Verwandten, sondern einen guten Spezialisten“.
In der Sowjetunion gab es damals keinen Begriff für „Recruiting-Agentur“. Es gab stattdessen ein staatlich organisiertes Arbeitskräfteverteilungssystem, das ihre Schattenseite hatte. Diese wird von den Russen selbst als „Vitamin B“ oder „Beziehungen“ genannt (man sagt ja auch: jemandem durch Protektion zur Arbeit oder zu einer Lehrstelle zu verhelfen). Heute ändert sich langsam diese Situation in Russland.
Wir brauchen keinen Verwandten, sondern einen guten Spezialisten.
– Über welche Probleme im Rahmen der Beschaffung von Personal für Ihre Kunden können Sie noch berichten?
– Die Russen verstehen es einfach nicht, sich selbst richtig zu vermarkten und zu verkaufen. Wir haben bei uns in England diesbezüglich folgendes Sprichwort: „Im Leben kriegst du nicht das, was du verdienst, sondern nur das, was du aushandeln kannst.“
Hierzu von mir ein Beispiel: Eine Firma in Amerika stellt Pumpen für die Erdölgewinnung her und möchte diese an die russischen Unternehmen verkaufen. Man sagt uns: „Wir brauchen einen Verkäufer, einen Ingenieur und Technologiespezialisten. Wir fangen mit der Suche nach Spezialisten an, die Englisch sprechen, professionell sind und die arbeiten, lernen und sich weiterentwickeln möchten. Doch zu den Bewerbungsgesprächen erscheinen oftmals Bewerber, die uns einfach von ihren zwei Hochschulabschlüssen berichten. Und sie glauben dabei tatsächlich, dass sie ein üppiges Gehalt nur deswegen verdienen, weil sie so lange gelernt haben. Ich aber erwarte von Ihnen, dass sie mir vor allem berichten, was und wem sie etwas bereits verkauft haben, in welcher Größe und unter welchen Wettbewerbsbedingungen.
Den Russen mangelt es vor allem an unternehmerischem Gespür, welches die sowjetische Regierung 70 Jahre lang bei den Menschen im Namen der kommunistischen Ideale auszumerzen versuchte. Und so kommt es zum Beispiel vor, dass, wenn wir einen Verkaufsleiter suchen, der Kunde aus dem Ausland beim Zusammentreffen mit unseren Bewerbern sagt: „Das sind doch keine Verkäufer!“. Daraufhin versuchen wir ihm zu erklären, dass eine solche Verkaufstätigkeit in Russland vor 25 Jahren als „Schieberei“ bezeichnet wurde und unter Strafe stand.
– Was verdienen Ihre Bewerber bei Ihnen?
– Das Gehalt kann zwischen 90.000 und 200.000 Rubel schwanken. Aber es könnte auch mehr sein. Das Durchschnittsgehalt bei den Menschen, denen wir eine Arbeitsstelle vermitteln, beträgt 140.000 Rubel pro Monat.
– Und welche Fachkräfte sind heute gefragt?
– Wir brauchen immer gute Finanzexperten, Pharmazeuten, Marketingspezialisten und natürlich qualifizierte Verkaufsleiter.
– Wie viel bekommen Sie für einen vermittelten Spezialisten?
– Die übliche Provision beträgt 30% vom Jahresverdienst des Vermittelten. Etwas mehr bekommen wir, wenn es sich um entferntere Regionen Russlands handelt – Nowyj Urengoi oder Norilsk.
Über die Spezifik Russlands
– Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie anfingen, in Russland zu arbeiten?
– Die Tatsache, dass die Russen es vermeiden, die Aufgaben an ihre Mitarbeiter zu delegieren. In einer Recruiting-Agentur gibt es zum Beispiel einen Generaldirektor, der über eine gewisse Anzahl von Mitarbeitern verfügt, an welche er bestimmte Aufgaben übertragen könnte. Aber der Generaldirektor zieht es eher vor, sich persönlich mit jedem Kunden zu treffen, persönlich jeden Brief und jede Bewerbung zu lesen. Dabei ist er überzeugt davon, dass er die Arbeit selbst am besten erledigen kann und schuftet 16 Stunden jeden Tag. Das ist ja alles schön und gut, aber sein Unternehmen kann dadurch nicht wachsen! Den Mitarbeitern muss man vertrauen, denn wozu sind sie sonst überhaupt da?
Es ist sehr seltsam, dass man beim Besuch einer offiziellen Behörde in Russland mit Geschenken erscheinen muss.
Es ist auch seltsam, dass man beim Besuch einer offiziellen Behörde in Russland mit Geschenken erscheinen muss. So ist es beispielsweise nicht verkehrt, bei einem Besuch der Steuerbehörde eine Pralinenschachtel mitzunehmen.
Es hat mich in erster Zeit auch sehr überrascht, dass von den Mitarbeitern in der Firma das Geld für Geburtstagsgeschenke oder Begräbnisse zusammengelegt wird. Es ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht, aber einem Ausländer kommt es spanisch vor. Denn bei uns in England sind die Mitarbeiter eher eine Art Roboter. Die Pausen in den Filialen der Firma sind streng geregelt: Es sind zwei kurze Pausen um 11:15 und um 15:45 Uhr. Und in Russland ist es normal, zu spät zur Arbeit zu kommen, was mich am Anfang jedes Mal unglaublich überraschte. Die gängigen Ausreden sind dabei „Ich habe verschlafen“ und „Ich stand im Stau“. Nach der Ankunft auf der Arbeit trinken die russischen Mitarbeiter außerdem eine Stunde lang Kaffee, halten einen Plausch mit ihren Kollegen, besuchen die Seite „Odnoklassniki“ („Odnoklassniki.ru“ ist ein soziales Netzwerk, eine russischsprachige Entsprechung der englischen Variante „Classmates.com“, welches die Suche nach ehemaligen Klassenkameraden oder nach Studenten, mit denen man zusammen studiert hat, ermöglicht und den Kontakt zu ihnen ermöglicht); und erst dann fangen sie mit ihren eigentlichen Aufgaben an.
– Was sollte ein Ausländer wissen, der über eine Arbeitsstelle in Russland nachdenkt?
– Zuallererst ist es sehr schwer, ein Visum zu bekommen, und in der russischen Botschaft sind lange Schlangen. Wenn man sich diesen Stress ersparen möchte, könnte man das Angebot von speziellen Agenturen nutzen, die einen solchen Service anbieten (natürlich aber nicht umsonst). Einmal, als ich nach Tschukotka reisen wollte, musste ich mir ein gesondertes (!) Visum ausstellen lassen, auf welches ich 45 Tage warten musste.
Laut der russischen Gesetzgebung gehört der Autonome Kreis der Tschuktschen zu den Gebieten mit beschränkten Aufenthaltsmöglichkeiten von ausländischen Bürgern. Ein bedeutender Teil der Region, die West-Tschukotka ausgenommen, gehört zu einer Grenzzone, in welcher außer der Einreise- und Aufenthaltserlaubnis auch ein spezieller Passierschein erforderlich ist. Seit 2009 hat sich die Bearbeitungszeit für die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung in Tschukotka von 45 auf 30 Tage verkürzt, für bestimmte Ausländergruppen und ausländische Touristen kann die Bearbeitungszeit sogar auf zehn Tage sinken.
In der ersten Zeit meiner Tätigkeit in Russland, in den 90er Jahren, hat mich sehr überrascht, dass in den Hotels, in welchen ich übernachten wollte, ich zu hören bekam, dass das Hotel ausgebucht sei, obwohl es leer stand. Und am Fahrkartenschalter am Bahnhof sagte man mir, dass die Tickets alle weg wären, obwohl es nicht stimmte. Der Grund dafür war einfach, dass im ersten Fall die Mitarbeiter der Hotelrezeption ihre Kreuzworträtsel ungestört weiter lösen wollten und im zweiten Fall die Kassiererinnen eine Tee-Pause einlegen wollten. Sie hatten ihr Fixgehalt, und ich als Kunde störte dabei nur! Heute sieht das natürlich anders aus: Man kämpft um den Kunden.
200 Jahre und 200 Tage
– Was lockt wohlsituierte Europäer, Amerikaner, Chinesen und viele andere eigentlich nach Russland?
– Sie alle werden von den unglaublichen Möglichkeiten und Perspektiven in Russland angelockt. Auch wenn die Arbeit hier für einen Ausländer eine Art „Extremfall“ darstellt. In England, zum Beispiel, gehen die Menschen miteinander sehr höflich um. In Russland ist es dagegen nach meinen Beobachtungen nicht unbedingt notwendig, einen Unbekannten in einer höflichen Form anzusprechen. Denn manche könnten Höflichkeit auch als ein Zeichen von Schwäche auslegen.
Russland hat niedrige Steuern, große Möglichkeiten und kaum ernst zu nehmende Konkurrenz.
Aber andererseits ist es zum Beispiel unmöglich, in England ein Mädchen in einer U-Bahn anzusprechen. Es würde einen komplett ignorieren. Das sind Auswirkungen des Feminismus. In Russland dagegen ist es ganz normal, ein Mädchen an der Haltestelle oder im Laden anzusprechen. Es besteht zumindest die Chance, dass man nicht sofort abgelehnt wird.
– Sie arbeiten in Russland bereits seit 15 Jahren. Was könnten Sie in Bezug auf die russische Mentalität sagen? Verändert sich diese im Laufe der Zeit?
– Ja, sie verändert sich, aber nur schleppend. Noch im Jahre 1991 antwortete Michail Gorbatschow auf die Frage nach Reformen in seinem Land: „Sie haben 200 Jahre gebraucht, um das heutige Niveau zu erreichen. Wieso glauben Sie, dass wir diesen Weg in 200 Tagen schaffen würden?“ Es war eine sehr gute, richtige Antwort. Man braucht einfach Zeit.
Hier gibt es mehr Möglichkeiten
– Zum Schluss: Wozu sollte ein ausländischer Spezialist sich um Arbeit in Russland bemühen?
– Um ein Unternehmen zu gründen und gutes Geld zu verdienen. Um sich selbst zu verwirklichen und seine schöpferischen Ambitionen zu befriedigen. Russland hat niedrige Steuern, große Möglichkeiten und kaum ernst zu nehmende Konkurrenz. Es mag vielleicht hart klingeln, aber die Russen können oder wollen nicht verkaufen. Oder beides. Ich wuchs in einem Land auf, wo jeder versucht, dir irgendetwas zu verkaufen. In Russland gibt es so etwas nicht. Und wenn Sie in Europa oder Amerika gelernt haben, zu verkaufen, stehen Sie in Russland außer Konkurrenz.
Die Agentur Antal Russia befragte hierzu über 200 russische Manager aus dem mittleren und höheren Management. Die Frage dabei lautete: „Wodurch unterscheiden sich die ausländischen Manager von den russischen Spezialisten?“
Vorteile der ausländischen Manager:
• Beziehungen zu den Business-Communities in Europa und Amerika, Ausbildung und Führungsstil nach westlichem Muster;
• weniger korrupt, und sie spielen nach klaren Regeln;
• hohe Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber;
• systematische Denkweise;
• Bereitschaft zur Zusammenarbeit;
• Fähigkeit, globale Aufgaben, Strategien, Sichtweisen, Kultur und politische Aspekte klar und deutlich zu erfassen und zu formulieren;
• Verantwortung, hohe Arbeitsfähigkeit, detailliertes technisches Know-how, Zielstrebigkeit und Fähigkeit zur Präsentation.
Nachteile der ausländischen Manager:
• keine Vernetzungen mit den lokalen Business-Communities, Unverständnis und Abneigung gegenüber der russischen Kultur, schlechte russische Sprachkenntnisse;
• fehlendes Marktverständnis, fehlendes Verständnis der Kundenbedürfnisse und der Spezifika des Umgangs mit den russischen Geschäftspartnern (auf der persönlichen Ebene);
• geringere Ergebnisorientiertheit und Initiative;
• stereotypes Denken;
• fehlende Verantwortung für die Arbeitsergebnisse, bevorzugtes Einnehmen der Beraterposition;
• eingeschränkte Wahrnehmung seiner Arbeitspflichten;
• fehlendes Verständnis in Bezug auf die geografischen Dimensionen Russlands und daraus folgend Durchschnittsdenken.