Ich brauche bedeutende Aufgaben
— Ich wurde 1961 in Ostdeutschland geboren, als Juri Gagarin ins Weltall flog. Mein gesamtes weiteres Leben war verbunden mit diesem berühmten Weltraumpionier. Ich war auf der Juri-Gagarin-Schule. Wir hatten einen regen Briefverkehr mit Pionieren aus Leningrad. Ich erinnere mich, dass ich einer Freundin in der Stadt an der Newa eines der blauen Pionierhalstücher geschickt habe, wie wir sie in der DDR trugen. Als Antwort bekam ich das rote Halstuch der sowjetischen Pioniere. Ich hatte eine ganze Sammlung von Postkarten und Abzeichen aus der UdSSR. Von Kindheit an saugte ich sowohl die russische als auch die deutsche Kultur in mich auf.
Über Jens Dallendörfer
Absolvierte die Universität für Angewandte Wissenschaften im deutschen Hemmersdorf in den Fächern Ingenieurswesen, Keramik und Mineralogie. Studierte Management an der Universität St. Gallen und am Internationalen Institut für Managemententwicklung in Lausanne (Schweiz). Von 2005 bis 2008 bekleidete er den Posten des Geschäftsführers der geschlossenen Aktiengesellschaft (ZAO) Holcim Group. War verantwortlich für den Verkauf von Zement in Russland, der GUS und der Kaspischen Region. 2009 bis 2012 kaufmännischer Geschäftsführer von Shambyl Zement in Kasachstan mit den Zuständigkeiten Marketing, Verkauf und Logistik. 2012 stand er der russischen Einheit WILO RUS des deutschen Konzerns WILO SE vor, einem führendem Hersteller von Pumpen und Pumpanlagen. Er beherrscht die englische und die russische Sprache frei.
Nach dem Universitätsabschluss war ich im Baugewerbe tätig, beschäftigte mich mit dem Verkauf von Keramikröhren und Ziegeln. Zudem bot ich den Kunden Produkte für den Wassertransport an: Pumpen, Armaturen, Wasserhähne und Heizmaterialien.
— Pionier-Sein liegt, wie Juri Gagarin, in Ihrer Natur?
— Ja. Ich brauchte stets neue Horizonte, bedeutende Aufgaben. Als ich von einem Vertreter des Schweizer Zementkonzerns Holcim hörte: „Wir brauchen einen Managing Director in Russland. Wollen Sie es versuchen?“, stimmte ich deshalb sofort zu, ohne lange nachzudenken. 2005 kam ich dann nach Russland.
— Mit welchen Schwierigkeiten hatten sie es hier zu tun?
— In der Schule lernte ich zwar Russisch, schenke dem da jedoch eher wenig Aufmerksamkeit. Das habe ich bei meiner Ankunft in Russland tief bereut. Eine Sprachbarriere war da. Ich konnte zwar russisch lesen, aber nicht sprechen. Doch haben sich alle Schwierigkeiten im direkten persönlichen Kontakt gelegt. Ich bin ein offener Mensch, und es war leicht für uns, eine gemeinsame Sprache zu finden.
— Haben Sie in Moskau gearbeitet?
— Ja, die Zentrale ist in Moskau,. Wir waren jedoch in ganz Russland tätig. 2009 fusionierte Holcim mit dem Unternehmen „Asfalt Zement“. Es wurde entschieden, ein neues Werk in Kasachstan zu errichten. So wurde ich nach Kasachstan entsandt, von wo einst Juri Gagarin gestartet war; das Kosmodrom von Baikonur liegt mitten in der kasachischen Steppe. In eben dieser Steppe errichteten wir nun unser Werk von Null auf.
Über WILO RUS
Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (OOO) WILO RUS in ein Tochterunternehmen des deutschen Konzerns WILO SE mit 29 russischen Filialen von Kaliningrad bis Wladiwostok. Der Hauptfirmensitz befindet sich in Moskau. Die Unternehmung produziert und liefert moderne Pumpanlagen für Heizungssysteme, Wasserversorgung, Ventilation, Klimaanlagen und Feuerlöschsysteme, aber auch Gerätschaften für Schwimmbäder und Aquaparks. Die Geräte der Unternehmung kommen beim Gebäude- und Anlagenbau, in Industrieunternehmen und in der kommunalen Bewirtschaftung zum Einsatz.
— Welchen Posten hatten Sie dort inne? Wofür waren Sie verantwortlich?
— Ich wurde zum kaufmännischen Geschäftsführer ernannt, ich baute die Logistik auf, schloss Verträge ab und arbeitete mit den Kunden. Mitten in der nackten Steppe! Heute steht unser Werk da, in der Nähe des Baikalsees, an der Straße nach Astana. Wir legten eine Bahntrasse, kauften Zweig Loks und dreihundert Waggons. Ich hatte eine Vielzahl von Fragen zu klären, bis dahin, in welche Säcke wir unseren Zement abfüllen sollten. Das war sehr interessant: Nicht einfach nur qualitative Waren zu importieren, sondern sie selbst herzustellen. Lokale Arbeitsplätze zu schaffen. In Kasachstan, wo niemand Englisch sprach, kümmerte ich mich sehr um mein Russisch. Ich verbrachte Zeit mit Lehrern, nur war ich häufig auf Geschäftsreise. Ich habe den gesamten Rand der Steppe bereist. Russisch habe ich unterwegs gelernt, indem ich mich mit Weggefährten unterhielt. Ausgezeichnete Praxis!
Ich hatte mich so stark integriert, dass ich, wenn ich im Urlaub nach Deutschland einreiste, meinen Pass vorzeigen musste und man sich sehr wunderte, dass ich Deutscher war.
In Russland gibt es erstklassige Ingenieure
— Doch dann hat das Schicksal Sie aus Kasachstan zurück nach Moskau geführt?
— Der Konzern WILO SE suchte für den Posten des Managing Director von WILO RUS einen erfahrenen Spezialisten, der die lokale Mentalität kannte. Mein Vorgänger war Russe und hatte diese Position 15 Jahre lang ausgezeichnet bekleidet, bevor er in den Ruhestand gegangen war. Bei WILO RUS waren zu diesem Zeitpunkt Restrukturierungen im Gange. Es wurden neue internationale Regeln und Finanzdokumente eingeführt, das Industriemanagement wurde ausgetauscht. Die Unternehmung wollte Werke bauen, eine neue Logistik aufbauen.
— Und das fiel mit der Ernennung des neuen Managing Director zusammen?
— Exakt. Meine Aufgabe bestand in erster Linie darin, das Team zusammenzustellen, damit den Mitarbeitern die neue Strategie nahegebracht werden konnte. Ich habe zu dieser Zeit nicht selten gehört: „Waren in Russland produzieren? Wir benötigen deutsche Wertarbeit. Wir müssen mit dem Import fortfahren.“ Das jedoch wäre die falsche Strategie gewesen. Ich war davon überzeugt: „Wir müssen in Russland das Fundament dafür schaffen, dass es hier eine eigene Produktion geben kann.“ In Russland gibt es doch erstklassige Ingenieure. Diese Ingenieure haben Weltraumapparate entwickelt, die Tupolev- und Iljuschin-Flugzeuge und vieles, vieles andere mehr.
Wir müssen in Russland das Fundament dafür schaffen, dass es hier eine eigene Produktion geben kann.
— Wie viele Menschen arbeiten in der Firma?
— Als ich zu WILO RUS kam, gab es dort 170 Mitarbeiter. Es herrschte jedoch eine gewisse Vetternwirtschaft. Hatte einer dort Arbeit gefunden, schleppte er auch gleich seinen Bruder an, seine Schwester, seinen Schwiegervater und so weiter. Es war notwendig, die Belegschaft zu überprüfen, wenn auch nicht überall. Das Finanzressort blieb, wie es war. Es wurde lediglich die Funktion des CFO hinzugefügt.
Im Verkaufsressort wurden neue Segmente eingezogen, und neue Leute wurden eingestellt. Im Ressort Marketing zu 100%. In der Logistik und im Einkauf haben wir uns auch erneuert. Jetzt sind wir 190, ein eingeschworenes Team von Profis.
— Sie bauen ein Werk im Moskauer Umland. Funken Ihnen die Beamten mit ihrer Bürokratie nicht dazwischen?
— Bürokratie gibt es auch in Deutschland. Wir haben 5,5 ha Land in Noginsk gekauft. Im Herbst 2013 begingen wir die Feierlichkeiten der Grundsteinlegung für unser Werk dort. Wir planen dorthin unsere Produktion von Industriepumpen auszudehnen. Wir haben alle notwendigen Gebühren bezahlt, zurzeit befinden sich die Dokumente bei der Registratur in Noginsk. Das hat ein Jahr gedauert. Ich finde, dass eine Einigung hier sehr schnell zustande gekommen ist. Wir sind bereits dabei, die Straßen zu bauen.
— Welche ist Ihre hauptsächliche Rolle bei diesen Abläufen?
— Ich generiere Ideen. Doch sie mit Leben zu füllen und um die notwendigen Dokumente - darum kümmern sich meine erfahrenen Assistenten. Ich habe Leute, auf die ich mich stützen kann. Wir sind offen, haben keine Geheimnisse. Wir zahlen gewissenhaft alle unsere Steuern.
Ich generiere Ideen. Doch sie mit Leben zu füllen und um die notwendigen Dokumente - darum kümmern sich meine erfahrenen Assistenten.
— Wann ist der Start der Produktion geplant?
— 2016. Das wird etwa 400 neue Arbeitsplätze bringen. In Russland zu produzieren ist im Übrigen keineswegs günstiger als in Deutschland. Doch aktuell ist es uns wichtiger, dass wir uns in der Nähe des Absatzmarktes befinden, bei den Kunden.
— Ist es schwer, in Russland Abnehmer zu finden?
— In Deutschland kann man sich pro Tag vielleicht mit sieben bis zehn Kunden unterhalten, mit jedem um die zehn Minuten. In Russland funktioniert das so nicht. Höchstens drei Kunden, und die Gespräche dauern ziemlich lang. Doch kennen wir uns einander gut. Ich möchte sagen, dass die Kundengespräche für mich den angenehmsten Teil meiner Arbeit darstellen.
— Worin unterscheiden sich russische von deutschen Kunden?
— Sie sind launenhafter und fordernder.
— Ist die Konkurrenz stark?
— Unsere nicht. Es gibt andere Hersteller, die ebenfalls Gerätschaften herstellen, die nicht schlecht sind. Es gibt russische Pumpen, dänische und deutsche. Ich spreche ungern über Preise. Wichtig ist das Gesamtpaket, die Logistik. Das ist wie beim Anzugkauf im Laden oder beim Maßschneider. Wenn ich sage, dass unsere Pumpen die besseren sind, wer wird das glauben? Doch stehen unsere Pumpen im Kreml sowie im Sankt Petersburger Mariinski-Theater und in der Ermitage.
Ich habe den Traum, noch ein Werk zu errichten
— Wo in Moskau wohnen Sie? In einer Stadtwohnung oder außerhalb? Haben Sie sich eine Immobilie in Moskau gekauft?
— Ich habe eine Wohnung in Zürich. In Moskau wohne ich zur Miete in einer Wohnung.
— Ist das teurer als in Deutschland?
— Für Ausländer sind die Mieten immer gleich doppelt so hoch. Wenn man sich in Dortmund, wo unser Werk steht, eine Wohnung mietet, kostet die nur etwa ein Drittel.
— In welchem Bezirk von Moskau haben Sie Ihre Wohnung gemietet?
— Ich habe direkt im Zentrum gewohnt, auf dem Arbat, wo Michail Bulgakov die Helden seines Romans „Meister und Margarita“ angesiedelt hat. Ich habe mir dort eine Wohnung genommen, weil ich nicht gerne im Stau stehe. Jetzt wohne ich in Strogino. Dort fühlt es sich gar nicht danach an, dass man in Moskau wohnt. Ein sehr sauberer und grüner Bezirk. Abends bin ich schon dreieinhalb Stunden im Wald spazieren gegangen. Man sitzt am Fluss und sieht auf der anderen Seite das internationale Geschäftszentrum „Moscow City“. Man braucht 40 Minuten bis ins Zentrum, zum Platz der Revolution.
— Was sagen Sie zu den Moskauer Restaurants?
— 2005 waren die Preise in den Restaurants hoch, doch die Qualität einfach nur schrecklich. Heute korrespondieren Preis und Qualität miteinander. Teuer, doch von ausgezeichneter Qualität. Es werden dann beispielsweise frische Austern gereicht!
— Wie würde sich Ihre Tätigkeit unterscheiden, wenn Sie in einer ähnlichen Firma in Deutschland tätig wären?
— In Deutschland wäre das Verkaufsvolumen zweimal so hoch. Doch ich könnte in Deutschland schon gar nicht mehr arbeiten. Zurzeit wird in Deutschland auch ein neues Werk gebaut. Doch würde ich da nichts entscheiden. Das tun dort zwei Dutzend Menschen.
Zurzeit wird in Deutschland auch ein neues Werk gebaut. Doch würde ich da nichts entscheiden. Das tun dort zwei Dutzend Menschen.
— Teilen Sie Ihre Pläne für die Zukunft mit uns?
— Russland ist ein sehr großes Land. Ich habe den Traum, noch ein Werk irgendwo in Jekaterinburg oder Novosibirsk zu errichten.
— Würden Sie Ihren Landsleuten und anderen Ausländern raten, nach Moskau zu fahren, um dort zu arbeiten?
— Als ich mit auf Russland vorbereitet habe, hörte ich die Rufe meiner Freunde: „Jens, Du bist nicht normal. Dir steht die gesamte Welt offen, und Du entscheidest Du für Russland“. Die Leute fürchten sich nicht unbedingt davor, nach Russland zu kommen. Viele trauen sich noch nicht mal vor die Tür, weg von ihrem warmen Plätzchen. Nicht selten trifft man im Westen auf folgende Abwägung: „Ich fahre dorthin, arbeite da für drei Jahre und komme dann wieder zurück.“ Doch wirst Du in dieser Zeit kein Gefühl für das Land entwickeln. Im ersten Jahr versteht man rein gar nichts. Im zweiten ein wenig. Und im dritten, wo das Verständnis langsam kommt, ist es dann schon Zeit zu gehen.
Die Russen sagen: „Moskau glaubt Tränen nicht.“ Bereit, hart zu arbeiten, Narben zu bekommen und nicht die Hoffnung zu verlieren? Na dann: Willkommen in Russland!