- Johan, Sie leben nun schon seit fast einem Vierteljahrhundert in Moskau...
Über Johan Vanderplaeste
Geboren in Flandern, Nordbelgien. Abschluss an der juristischen Fakultät der Universität Gent. Arbeitet und lebt seit 1991 in Moskau. Vice-President der Sektion Osteuropa der US-amerikanischen Engineering Company Emerson. Präsident des russisch-belgischen Business-Clubs. Johan Vanderplaeste hat ganz Russland bereist, von Kaliningrad bis Kamtschatka. Liebstes Hobby: Fischen im Wolgadelta bei Astrachan. Unter seinen russischen Lieblingsgerichten: Okroschka (eine kalte Kwas-Suppe) und Stroganina (gefrorene Fleisch- oder Fischstreifen).
- Ja, bald haben wir Jubiläum!
- Sie hatten keine Angst, in die russische Wirklichkeit der 90er Jahre einzutauchen, wo hier alles weit entfernt von einfach war. Heute ist Russland ein anderes Land. Doch die Situation in der Welt ist kompliziert. Würden Sie diesen Schritt heute noch einmal machen?
- Auf jeden Fall. Obwohl es hier auch heute nicht einfach ist, wie überall eigentlich. Sie haben recht: Russland hat sich in den letzten 25 Jahren stark verändert. Nach dem Zerfall der UdSSR hatte sich das Land in Richtung westlichem Business geöffnet. Wohin man schaute, alles war eine einzige Krise, aus der sich zu befreien, es sehr lange schien zu dauern. Doch die Russen kamen erstaunlich schnell aus ihr heraus. Die russische Wirtschaft entwickelt sich, der Lebensstandard steigt.
Ich kann das beurteilen, ist es doch direkt vor meinen Augen passiert. Deshalb würde ich es auch heute noch riskieren, in Russland mein Business zu starten, um so mehr, da das Risiko geringer ist, und die Möglichkeiten größer sind. Dazu gefällt mir auch die russische Mentalität sehr. Ich finde hier zwei Faktoren sehr attraktiv: Zum einen wird es niemals langweilig. Zum anderen gibt es hier ein kolossales Potenzial für Businessentwicklungen in alle Richtungen.
Die russische Wirtschaft entwickelt sich, der Lebensstandard steigt. Ich kann das beurteilen, denn es ist direkt vor meinen Augen passiert.
- Nun zählen wir auch das auf, was Ihnen weniger gefällt...
- Insbesondere ist dies die Bürokratie. Selbst nach 25 Jahren kann ich mich nicht an diese Masse an Papieren mit ihren Stempeln drauf gewöhnen und das gigantische Berichtswesen. Sicher ist das schon besser geworden, doch liegt hier aus meiner Sicht noch ein großes Stück Arbeit vor uns. Ein Beispiel: In allen westeuropäischen Sektionen von Emerson gibt es nur sechs Juristen. Allein für Russland sind es 15! Dasselbe gilt für die Buchhalter. Anders kann man der Bürokratie nicht Herr werden. Natürlich, für so ein großes Haus wie das unsere stellt diese Bürokratie kein unüberwindbares Hindernis dar. Wir können es uns leisten, eine ganze Armada von Juristen und Bilanzierern zu beschäftigen. Für die kleinen und mittleren Unternehmen ist das aber schon kostspielig. Das schreckt Unternehmer ab, die darüber nachdenken, in Russland ein Business zu starten. Dabei stellen gerade die kleinen und mittleren Unternehmen die Grundlage einer gesunden Ökonomie dar. In Russland ist das leider noch nicht der Fall, und dieses Ungleichgewicht gilt es in den Griff zu bekommen.
Über Emerson
Gegründet im Jahre 1890 ist Emerson eine der weltweit größten Technologie- und Industrieunternehmen. Das Hauptquartier befindet sich in Saint Louis, in den USA. Die Anzahl der Mitarbeiter beläuft sich auf mehr als 140.000, der Jahresumsatz beträgt 25 Mrd. US Dollar. Das Unternehmen hat signifikante Summen in den Öl- und Gasmarkt Russlands und der GUS investiert. Emerson verfügt über ein eigenes Werk in Tscheljabinsk.
Eine weitere Barriere für die Businessentwicklung stellt noch immer die Korruption dar, die das russische Staat hat noch immer nicht überwinden können. Sicher ist das noch niemandem irgendwo vollständig gelungen, und die Situation heute ist auch schon erheblich besser als in den 90er Jahren. Doch dennoch: Sie stört nach wie vor.
- Gibt es Staatsbedienstete, die von Ihnen Schmiergeld haben wollen?
- Ich bitte Sie! Die russischen Beamten sind auch vorsichtiger geworden und verlangen schon lange nichts mehr offen. Sie finden einfach 1.000 Gründe dafür, Ihnen Ihre Anfragen nicht zu beantworten. Emerson zahlt aber grundsätzlich keine Schmiergelder und greift auch nicht zu fragwürdigen Mitteln bei der Verfolgung seiner Interessen. Dann lieber etwas weniger Umsatz als perspektivisch in Schwierigkeiten zu laufen und seine Reputation zu verlieren.
Ich sehe das mit den Sanktionen eher philosophisch. Meiner Meinung nach ist hier Panik fehl am Platze. Man muss vielmehr nach vorn schauen.
- Was ist Ihre Meinung zu den Sanktionen, die sich Russland und der Westen in den letzten Monaten gegenseitig auferlegen? Wo wird das hinführen?
- Ich sehe das mit den Sanktionen eher philosophisch. Wie übrigens auch der Großteil der Russen. Sie sagen: Wir haben die Revolution überlebt, den Krieg und die Perestroika. Dann überleben wir die Sanktionen erst recht. Meiner Meinung nach ist hier Panik fehl am Platze. Man muss vielmehr nach vorn schauen. Übrigens war ich damals beim Default 1998 in Moskau. Viele Ausländer erklärten damals Ihre Unternehmungen für am Ende und dass hier nicht Gutes mehr entstehen würde.
Wenn über dem Meer auch ein Sturm wütet, es oben brodelt und zischt und alles gar fürchterlich scheint - taucht man in die Tiefe, ist dort alles ruhig.
Doch nach nur ein paar Jahren begann die russische Wirtschaft wieder zu wachsen, und die, die nicht in Panik verfallen waren, sondern sich an ihre Langfriststrategien für Russland hielten, machten satte Gewinne. Ich denke, dass es auch jetzt so sein wird. Wissen Sie, wenn über dem Meer auch ein Sturm wütet, es oben brodelt und zischt und alles gar fürchterlich scheint - taucht man in die Tiefe, ist dort alles ruhig. Und Business bevorzugt Treffen und Verhandlungen eben in dieser Tiefe, wenn es oben stürmt. Deshalb ist es die Aufregung nicht wert. Ich sage mal so: Die Situation ist angespannt, aber nicht kritisch.
- Der Sturm hat Ihre Firma nicht erreicht?
- In Russland liegt unser Spezialgebiet in Öl und Gas. Uns beunruhigt zurzeit definitiv, dass amerikanische Firmen keine High-Tech-Geräte nach Russland exportieren können, mit denen zum Beispiel Kohlenwasserstoffe in der Arktis gefördert werden können. Andererseits, schaut man sich die Sanktionen etwas genauer an, kann man sich davon überzeugen, dass dort vieles nur auf dem Papier stattfindet. Und auch wenn das so weitergehen sollte - einen Ausweg wird es immer geben.
— Вашу компанию шторм не затронул?
Es ist die Politik von Emerson in Russland, darauf zu setzen, besser nicht aus dem Ausland zu importieren, sondern vor Ort, in Russland selbst, zu produzieren. Ein Beispiel hierfür ist das Metran-Werk in Tscheljabinsk, wo High-Tech-Gerät hergestellt wird. Dort sind mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigt, und wir haben vor, diese Zahl zu verdoppeln. Wir errichten einen neuen Produktionskomplex, der im kommenden Frühjahr eröffnet werden wird. Was dabei wichtig ist: Es handelt sich nicht um ein bloßes Montagewerk für Einzelteile aus dem Ausland. Die Geräte bestehen zu 70% aus russischer Produktion. In Tscheljabinsk arbeiten etwa 200 Ingenieure für uns an der Entwicklung von Software-Lösungen. Ihnen haben wir bereits mehr als 80 Patente zu verdanken.
- Das heißt, nicht die gesamte Brain Power ist aus Russland abgewandert?
- Heute finden sie Verwendung bei uns vor Ort in Russland, und das ist gut so. Noch etwas zum Thema Sanktionen: Jede Sanktion ist ein Stimulus für die Entwicklung eigener Produktionen. In Russland hat man das verstanden und setzt auf Importsubstitution. Und wir haben verstanden, dass sich unsere Strategie einer innerrussischen Produktion als die richtige erwiesen hat.
Jede Sanktion ist ein Stimulus für die Entwicklung eigener Produktionen. In Russland hat man dies verstanden und setzt auf Importsubstitution.
- In Russland sagt man: „Die Natur erträgt kein Vakuum“. Und wenn die Russen die Bodenschätze der Arktis nicht zusammen mit Amerikanern oder Europäern heben, treten eben asiatische Partner an ihre Stelle, wie die Chinesen...
- Vollkommen richtig. Das sind verpasste Gelegenheiten. Das größte Projekt der letzten paar Jahrzehnte war die gemeinsame Erschließung des arktischen Festlandsockels durch Rosneft und Exxon Mobil. Die Fortentwicklung dieses Projektes liegt im Interesse sowohl Russlands als auch des Westens. Ich erlaube mir aber anzuzweifeln, dass hier die westliche Fördertechnologie einfach durch chinesische ersetzt werde könnte. China verfügt im Bereich der Erdölförderung in der Arktis nicht über die entsprechende Erfahrung, wie sie BP, Total, Exxon Mobil oder andere westliche Unternehmen haben. In der Arktis liegt eines der letzten großen Gas- und Ölvorkommen. Dieses kolossale Projekt dürfen keine Sanktionen stören. Ich hoffe, das wird auf beiden Seiten des Ozeans verstanden...
- Über ein so großes Unternehmen wird sicher verhandelt werden, dafür steht einfach zu viel auf dem Spiel. Doch können die Sanktionen mittlere und kleinere Unternehmen behindern?
- Ich denke, ja. Die Sache ist die, dass es weniger Vertreter des amerikanische Business in Russland gibt als des europäischen. Und unter den europäischen Businesses ist der Anteil der mittleren und kleinen Unternehmen größer als unter den amerikanischen. Deshalb werden Sanktionen eher europäische Unternehmen treffen. Das hat sich bereits beim Importstopp für Lebensmittel gezeigt.
- Heißt das, dass heute nicht die richtige Zeit ist, auf den russischen Markt zu treten? Sollte man eher abwarten?
- Ich würde das genau andersherum sehen. Meine Erfahrung, die ich in über die Jahre habe sammeln können, lehrt mich eines: Für Russland braucht man langfristig geplante und angelegte Projekte. Und die brauchen eben Zeit, um in Gang zu kommen. Zudem zeichnen sich die russischen Partner durch ein ausgezeichnetes Gedächtnis aus. Wenn eine ausländische Firma in einer politischen Krise nicht sofort das Weite sucht, werden die Russen dies sicher schätzen. Umso mehr schätzen sie es, wenn eine Firma gar in diesen schweren Zeiten hierher kommt. Das bedeutet: Die Risiken von heute wandeln sich morgen in Kapital. Worauf also warten? Im Sturm muss man seine Marktposition festigen. Dann wird der Sturm sogar rentabel. Sonst gäbe es Emerson hier schon lange nicht mehr...
- Dennoch ziehen es viele westliche Unternehmen vor, sich auf dem asiatischen Markt zu etablieren, wie in China...
- China und Indien sind große Märkte, wo man sehr gut arbeiten kann, wenn es um entsprechend große Umsatzvolumina geht. In Russland aber liegt die höhere Rentabilität. Die Mittelschicht wächst hier beständig mit Einkommen vergleichbar zu europäischen. Viele glauben, dass man in Russland Geld nur in Moskau und Sankt Petersburg verdienen könne. International zählt man zur Mittelschicht, wenn man ein monatliches Einkommen von 1.500 USD hat. Für mich war es eine Erkenntnis, dass es in russischen Regionen wie Baschkortostan mehr Einwohner mit einem solchen Einkommen gibt als in Bulgarien.
Die Risiken von heute wandeln sich morgen in Kapital. Worauf also warten?
Dorthin jedoch eilen die europäischen Investoren. Doch an die Existenz eines Nishnij Nowgorod oder Tscheljabinsk, wo es eine breite Mittelschicht gibt, denkt irgendwie keiner. Wenn ich meine belgischen Geschäftskollegen frage, wo denn Baschkortostan liegen könnte, weiß das keiner. Für viele haben die russischen Regionen mit Depression zu tun. Sie sehen die realen Veränderungen nicht, die dort vor sich gehen.
- Jetzt verstehe ich, warum es sie ins weit entfernte Tscheljabinsk verschlagen hat...
- Als wir dort Metran aufgemacht haben, handelte es sich noch um eine recht kleine Unternehmung. Warum aber Tscheljabinsk? Dort gibt es eine starke Hochschule, die staatliche Süd-Ural-Universität, mit der wir kooperieren. Der Mangel an qualifizierten Ingenieuren ist ein weltweites Problem, das wir jedoch Dank dieser Universität lösen können. Nicht weniger relevant ist, das Baugrund für Industrieanlagen im Ural erheblich billiger ist als in Moskau. Auch die Ausgaben für Gehälter und Mieten sind dort niedriger. Die Lebenshaltungskosten unserer Mitarbeiter dort sind erheblich geringer als die ihrer Kollegen in Moskau. Gleichzeitig stimmen Logistik und Transport. Und - last, but not least - ist hier die Beziehungspflege zu den Behörden ein ganzes Stück einfacher.
- Also besser nicht nach Moskau?
- Das habe ich nicht gesagt. Betriebsstätten sollte man besser in die Peripherie verlegen, sein Hauptquartier aber nach Moskau, wie es bei Emerson der Fall ist und bei Hunderten anderer Firmen auch. Zudem bleibt Moskau mit seiner riesigen Bevölkerung ein kolossaler Markt für neue Produkte und Dienstleistungen. Ständig wenden sich Unternehmer an den russisch-belgischen Business-Club, die sich für Investitionen in Russland interessieren. Sie suchen nach freien Nischen, wo sich Geld verdienen lässt. So wurde ich auf einem der letzten Treffen gefragt, warum man in Russland so gut wie nirgendwo belgische Schokolade kaufen kann. Und wenn, dann nur zu horrenden Preisen. Belgien ist ja, wie Sie sicher wissen, ein wahres Schokoladenparadies. Und da haben wir sie, die freie Nische. Versorgen Sie die Moskauer Handelsnetze mit exzellenter belgischer Schokolade. Von Moskau nach Brüssel braucht man mit dem Flugzeug nur drei Stunden und ein bisschen.
Moskau bleibt mit seiner riesigen Bevölkerung ein kolossaler Markt für neue Produkte und Dienstleistungen.
Ich möchte jedoch nicht verhehlen, dass vielen potentiellen Investoren das Absinken der Wachstumsraten in der russischen Wirtschaft Sorge bereitet. Das BIP-Wachstum könnte, folgt man den Prognosen, nach 4 bis 5% im Vorjahr auf 1,5% dieses Jahr fallen. Und da spielen die Sanktionen noch gar keine Rolle. Dieser Rückgang setzte schon vor den Ereignissen in der Ukraine ein. Der Grund hierfür liegt woanders. All die Jahre wurde in Russland gesprochen über die Notwendigkeit einer Diversifikation der Wirtschaft. Doch noch immer exportiert das Land vornehmlich Öl, Gas, Holz, Diamanten und metallurgische Erzeugnisse. High-Tech-Produktion made in Russia ist im Westen kaum anzutreffen. Es gibt einige angenehme Ausnahmen wie das Kaspersky Lab, doch machen die noch keinen Sommer.
- Könnten westliche Investoren Russland bei der Diversifikation seiner Wirtschaft helfen? Könnten hier gemeinsame Interessen gefunden werden?
- Ohne Frage. Eben damit beschäftigt sich Emerson in Tscheljabinsk. Wir errichten dort zusammen mit der staatlichen Süd-Ural-Universität „Klein-Skolkowo“. Und es ist durchaus möglich, solche innovativen Cluster auch in anderen Regionen zu schaffen. Russland fehlt es auch an qualitativer PR im Westen. Sicher erhält man auf CNN einen amerikanischen Blick auf die Welt.
Russland fehlt es an qualitativer PR im Westen.
Doch spielen auch dort häufig Länder wie Kasachstan, Aserbaidschan und andere eine Rolle in Bezug auf ihr Investitionspotenzial. Russland hingegen investiert nur wenig in Werbung in Bezug auf seine Attraktivität für Investoren. Russia Today ist ein gutes Projekt, jedoch ist das klar nicht genug. Man muss hier einflussreiche Medienressourcen aktivieren und Investment-Reisen organisieren. Dann wird es weniger Mythen und mehr Wahrheit geben.