— David, wir treffen uns in nicht gerade einfachen Zeiten. Das Vertrauen zwischen Russland und den USA ist stark geschwächt. Zuerst der Snowden-Skandal, jetzt die Ereignisse in der Ukraine. Es wurde sogar von Sanktionen gegen Moskau gesprochen. Wie reagiert die westliche Wirtschaft darauf?
— Ich würde nicht die Wahrheit sagen, wenn ich darauf antworten würde, es wäre ihnen egal. Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass sie ein wenig anders denken. Zum einen verstehen die Geschäftsleute, dass die Massenmedien in Konkurrenz zueinander stehen und auch sie sich richtig verkaufen müssen. Und dafür müssen sie halt auch manchmal einen Feind präsentieren, irgendeine Schwarzmalerei. Denn je größer die Ente, desto größer die Auflage. So kann es auch zu solchem Unsinn kommen wie das mit den kaputten Toiletten oder den von Wölfen heimgesuchten Hotels zu den Olympischen Spielen in Sotchi.
Für die Wirtschaft macht es keinen Sinn, Russland zu verleumden. Business fußt auf Zusammenarbeit.
Für die Wirtschaft macht es keinen Sinn, Russland zu verleumden. Business fußt auf Zusammenarbeit. Ein reifer Geschäftsmann schenkt diesen Anekdoten keinen Glauben. Er siebt tendenziöse Berichterstattung aus. Er zieht es vor, alles mit seinen eigenen Augen zu sehen und sich direkt bei denen zu erkundigen, die in Russland geschäftlich tätig sind. Deshalb haben die Geschäftsleute, die vor Ort in Sotchi waren, auch verstanden, dass man hier durchaus Geld investieren kann.
Über David James
Absolvent des Institute of Chartered Accountants von England und Wales sowie der Universität Cambridge mit Spezialisierung Linguistik, Slawistik und Politologie. Beherrscht zwölf Sprachen, davon Englisch, Polnisch, Deutsch, Russisch und Französisch perfekt.
Er arbeitete als Buchhalter bei Hiller Hopkins, leitete das Internal Audit für die europäischen Länder bei Cleanaway Europe und war CFO beim russischen Fernsehsender DTW. Seit 2009 bei Baker Tilly. Partner, zuständig für internationale Kontakte bei Baker Tilly Polen und in der Tschechischen Republik. Seit 2013 ist er nationaler Direktor für das Auditing bei Baker Tilly Russaudit.
Sicher liegen die Wurzeln für die heutigen politischen Spannungen erheblich tiefer. Und auch wenn das noch lange mit einem kalten Krieg nichts zu tun hat, erinnert mich das an eine russische Redensart: „Krieg ist Krieg, aber Mittag muss sein.“ Tja, die Wirtschaft muss dieses Mittagessen erhalten, Gewinn erzielen. Zuhause ist das für Ausländer immer schwerer möglich. Das wird dadurch verstärkt, dass die Banken im Westen so gut wie aufgehört haben, Kredite zu vergeben. Sie haben damals Privatleuten Geld für Ramschimmobilien gegeben und sich daran verbrannt. Unter anderem daraus ist eine Rezession entstanden, die jetzige Krise. Vor diesem Hintergrund kann kein politisches Lüftchen das Interesse an Russland trüben. Seine Wirtschaft wächst, wenn auch langsam. Der private Sektor entwickelt sich, hier können Ausländer investieren. Darauf verzichtet keiner der Politik zuliebe.
— Traditionell fürchten Ausländer die russische Korruption...
— Ich kann sagen, dass in Russland zurzeit erheblich stärkere Antikorruptionsregeln in Kraft sind als in vielen anderen Ländern. Natürlich zeigt der Krieg gegen die Korruption seine Wirkung nicht immer sofort. Doch die Geschäftstreibenden wiederum verstehen, dass Missetaten innerhalb der staatlichen Organe kein rein russisches Phänomen ist. Im Übrigen sind nicht wenige vom Ausmaß der in der EU aufgedeckten Korruption überrascht. Für mich war das weniger eine Überraschung. Vor einem Jahr habe ich am IFAC Forum of Firms in Wien teilgenommen, wo unter anderem Perspektiven von Investitionen in den postkommunistischen Ländern diskutiert wurden. Viele schrecken davor zurück wegen der Korruption. Doch hielt ich mir vor Augen, dass nach dem Korruptionsindex von Transparency International die Mehrheit dieser Länder wenn auch nicht unter die ersten Zehn, doch aber in der oberen Hälfte lagen. Und wenn man nicht in diese Länder investieren möchte, was wäre denn die Alternative? Ich denke, meine Ausführungen waren hinreichend verständlich.
In Russland sind zurzeit erheblich stärkere Antikorruptionsregeln in Kraft als in vielen anderen Ländern.
Ich glaube, dass man solche Foren häufiger auch in Russland abhalten sollte. Insbesondere heute, wo die Politik über die Wirtschaft die Oberhand gewinnt. Es ist wichtig klarzumachen, dass man sich besser kennenlernen muss. Denn Business wird von Menschen gemacht. Und intelligenten Menschen ist es eigen, dass sie zuerst alles gut wissen und prüfen wollen. Viele im Westen sind wegen der übermäßigen Einmischung des russischen Staates in die Wirtschaft besorgt. Doch auch diese Besorgnis ist stark übertrieben. Ohne die Einflussnahme des Staates würden die „großen Haie“ alles erdrücken. Es bedarf einer intelligenten Kombination aus antimonopolistischen Maßnahmen, unabhängigen Gerichten sowie eines gerechten und effektiven Steuersystems. All das gibt es in der einen oder anderen Ausgestaltung in Russland bereits. Und ich glaube nicht, dass sich dieser Kurs in irgendeiner Weise ändern wird. Damit die Leute Steuern zahlen, dürfen diese nicht zu hoch sein. In Russland ist der Einkommensteuersatz so niedrig wie kaum woanders: 13 Prozent. In der EU ist er erheblich höher. Auch der Umsatzsteuersatz ist in Russland niedriger.
— Baker Tilly Russaudit fördert die Entwicklung des Business ausländischer Unternehmen in Russland. Wie passiert das, und wie beginnen Sie in der Regel Ihre Gespräche?
— Wir beginnen mit einer Warnung: Ihre Konkurrenten arbeiten hier bereits, und es gibt ziemlich viele von ihnen. Doch wenn Sie bereits heute Angst vor ihren Konkurrenten haben: Morgen kommen die auf Ihren Markt und verdrängen Sie dort. Es sind die Gewinne, die sie auf dem russischen Markt erwirtschaften, die ihnen dies ermöglichen. Russlands Potenzial ist gewaltig, auch deshalb. Das bedeutet, sie könnten nun auf ewig zu spät dran sein...
Viele im Westen sind wegen der übermäßigen Einmischung des russischen Staates in die Wirtschaft besorgt. Doch auch diese Besorgnis ist stark übertrieben.
Dann rufe ich noch ins Gedächtnis, dass, im Unterschied zu zum Beispiel Asien, in Europa nur drei Städte eine Einwohnerzahl von über zehn Millionen haben. Das sind London, die größte Finanzmetropole. Das ist Istanbul, dass sich an der Schwelle zur EU befindet und die Rolle einer Brücke zwischen Europa und Asien einnimmt. Und Moskau, das man auch als Brücke bezeichnen kann: zwischen den gewaltigen Märkten des Westens und des Ostens. In Moskau gibt es viele chinesische und japanische Waren und Firmen, erheblich mehr als im Westen. Um auf die östlichen Märkte zu gelangen, muss man deshalb nicht nach Singapur oder Hongkong fahren: Es reicht, nach Moskau zu kommen und dort eine Kooperation in Gang zu bringen.
Umso mehr nun, wo die Moskauer Regierung den Kurs eingeschlagen hat, die russische Hauptstadt in ein riesiges internationales Finanz- und Handelszentrum zu wandeln. Hier sind alle Bedingungen für solche Partnerschaften gegeben. Und, was nicht weniger wichtig ist, es besteht Freiheit im Tun, kein Diktat durch die großen internationalen Firmen. Hat doch eben jener Snowden aufgezeigt, dass die Freiheit, auf die wir so stolz sind, sich in vielerlei Hinsicht als Mythos herausgestellt hat. Russland ist eines der wenigen Länder, die in der Lage sind, tatsächliche Eigenständigkeit zu zeigen. Hier können viele Businesses Zuflucht finden. Zuflucht für Kapital, für das es im Westen zu eng geworden ist.
Die Moskauer Regierung hat den Kurs eingeschlagen, die russische Hauptstadt in ein riesiges internationales Finanz- und Handelszentrum zu wandeln.
Sicher kann man Steuerparadise und sichere Häfen auch irgendwo Offshore suchen. Doch sind diese alle recht klein. Russland dagegen ist groß und weit weg vom Einflussgebiet vieler einflussreicher Interessenten. Das ist heute äußerst wichtig. Die letztes Jahr in Zypern erhobene Raubsteuer auf Bankeinlagen hat uns viel gelehrt. Davon waren auch Russen betroffen. Ihre Einlagen waren mit einem Wimpernschlag nichts mehr wert. Doch die meisten von ihnen haben nicht angefangen, mit den Füßen zu stampfen, sondern haben das Geschehene eher philosophisch gesehen. Sie haben nicht den Zyprioten die Schuld dafür gegeben; die haben selbst genug gelitten. Doch haben viele nach dieser Erfahrung ihre Investitionen repatriiert, was klug ist. Wenn Sie über die langfristige Entwicklung Ihres Business nachdenken, sollte man sich einen sicheren Hafen wählen, der nicht von Stürmen heimgesucht wird. In diesem Sinne sind die Investitionen in Russland strategisch gerechtfertigt. Wichtig ist nur nun auch, taktisch keine Fehler zu machen: in der Wahl der Branche, der Region und des Partners.
— Wie schneidet Moskau hier ab?
— Der unbestrittene Vorteil der russischen Hauptstadt ist ihre schiere Größe. Nach Territorium und Einwohnerzahl entspricht es der gesamten Tschechischen Republik. Zusammen mit dem Umland - Tschechien und der Slowakei zusammen. Aber, um zur Politik zurückzukehren: Ich kann sehr gut mit den ausländischen Geschäftsleuten in der Ukraine mitfühlen. Wenn die, die vom Maidan an die Macht gekommen sind, dort für länger bleiben, glaube ich nicht, dass dies für das Business in der Ukraine förderlich sein wird. Wenn man einen Ort für seine Investitionen auswählt, sollte man nie die politische Stabilität des Landes außer Acht lassen.
Über Baker Tilly Russaudit
Die Audit- und Beratungsfirma Baker Tilly Russaudit wurde 1992 in Moskau gegründet und gehört heute zu den größten Unternehmen auf dem Markt für Audit und Beratung. Zu den Assets ihrer Spezialisten gehören die Erfahrung der Umsetzung großer Projekte, darunter auch von föderalem Umfang, die Kenntnis über die Spezifika des russischen Marktes und internationale Praxis sowie einzigartige Eigenentwicklungen. Baker Tilly Russaudit gehört zu der internationalen Vereinigung Baker Tilly International, dem achtgrößten internationalen Netz von Prüfern, in der 156 Firmen aus 131 Ländern der Welt zusammengeschlossen sind.
— Welche Segmente des Moskauer Marktes sind Ihrer Ansicht nach die attraktivsten für Investitionen?
— Ganz unterschiedliche. Der Handel, das Bildungssegment, Dienstleistungen, das Baugewerbe. In Moskau herrscht zurzeit ein wahrer Bauboom. Die Stadt stellt gigantische Summen für die Entwicklung der Transport-Infrastruktur bereit, und viele westliche Firmen haben nichts dagegen, daran teilzuhaben. Einer meiner Partner aus Irland zum Beispiel ist im Bereich High-Class Offices und Eingangsbereiche tätig. Der eine Kunde empfiehlt ihn dem nächsten weiter, und die Aufträge in seinen Büchern nehmen einfach nur noch zu.
Wenn die, die vom Maidan an die Macht gekommen sind, dort für länger bleiben, glaube ich nicht, dass dies für das Business in der Ukraine förderlich sein wird.
Wissen Sie, viele Moskowiter haben einen großen Appetit auf westliche Waren. Und dieser Appetit bleibt, egal wie gesättigt der Markt ist. Ich glaube, was hier immer nachgefragt werden wird, sind Sprachkurse und Business-Fortbildungen. Auch für die IT-Branche sind die Aussichten nicht schlecht. Und ich spreche noch gar nicht davon, dass bei vielen Firmen, auch in Moskau, der Bedarf besteht, das veraltete Equipment auszutauschen durch westliche Spitzentechnologie. Ist das kein Feld für Investitionen?
— Wenn Sie von Waren aus dem Westen sprechen, meinen Sie dann Waren, die tatsächliche im Westen produziert wurden, oder über westliche Marken?
— Über die Marken. Die Waren selbst können auch in China hergestellt sein oder auch irgendwo in Afrika, wo es bereits viele chinesische Firmen gibt. Unter den Chinesen, deren Mittelklasse am Wachsen ist, gibt es immer weniger, die bereit sind, für 10 US-Dollar am Tag zu arbeiten. Deshalb ziehen immer mehr westliche Firmen ihre Produktion von dort ab. Sicher ist es ärgerlich, das im Westen die Produktion zurückgeht. Doch Nachfrage nach gutem Handwerk wird so oder so immer bestehen. Ein bekannter von mir fertigt großartige Schuhe an und verkauft sie für durchschnittlich 600 EUR das Paar, in Russland, könnte man sie wohl für 1.000 EUR an den Kunden bringen. Russen sind weniger auf Schnäppchen aus. Ich erlaube mir, an ein weiteren russisches Sprichwort zu erinnern: Der Geizige zahlt doppelt.
Die Moskowiter haben einen großen Appetit auf westliche Waren. Und dieser Appetit bleibt, egal wie gesättigt der Markt ist.
Übrigens, während meiner Zeit in Polen wurde ich Zeuge, wie eine chinesische Firma versuchte, in die Umsetzung eines großen Projektes für den Eisenbahnbau hineinzukommen. Sie haben sich sehr bemüht, doch es hat einfach nicht funktioniert. Den Zuschlag hat eine große bekannte österreichische Firma bekommen, die Strabag SE. Ich glaube nicht, dass die Russen hier weniger wählerisch gewesen wären...
— David, sind Sie selbst in Ihrem halben Jahr in Moskau nie enttäuscht worden?
— Nun, was mir nicht gereicht hat, war ... der Winter. Der war nicht richtig russisch. Einige Ausländer mögen den Winter wohl überhaupt nicht. Es ist auch nicht umsonst, dass es heißt: Was dem Russen zum Wohle, ist dem Deutschen sein Tod. Doch stellen Sie sich vor: Dieses Jahr war der Winter selbst in Warschau kälter als in Moskau. Ja, ich habe mich schnell eingelebt. Auch in Bezug auf die Moskauer Entfernungen und den Verkehr. Nebenbei: Als das angenehmste Transportmittel empfinde ich die Moskauer Metro. Ich fürchte mich niemals, mit der Metro zu fahren, Tag wie Nacht. Übrigens trage ich einen Schrittzähler bei mir. Meine Maßgabe: 10.000 Schritte am Tag. In Warschau gibt es im Übrigen nur wenige Orte, wo ich es riskieren würde, abends spazieren zu gehen. Dasselbe in London. Doch hier halte ich mich im Botanischen Garten auf oder in den Parks und fühle mich vollkommen heimelig. Hier kommt kein Sturm hin.