— Herr Marquaire, erst vor Kurzem erschienen auf der Internet-Seite der Französisch-Russischen Handelskammer Information über die Tätigkeit des Unternehmens CMS und Ihr Kommentar, der lautete: „Wir prognostizieren eine starke Geschäftsaktivität im Sektor M&A, weil die Situation in Russland sich zu stabilisieren beginnt…“ Meinen Sie damit, dass die wirtschaftliche Lage Russlands sich gerade stabilisiert?
— Ja, natürlich. Das Investitionsklima in Russland ist heute stabiler und ruhiger als z.B. noch vor zwei oder drei Jahren. Im Großen und Ganzen glaube ich, dass die russische Wirtschaft heute in einer besseren Lage ist als früher.
— Mit anderen Worten sind unter diesen Bedingungen die Investitionsrisiken für Russland gerechtfertigt?
— Ich würde sagen, dass sie sogar gerechtfertigter sind als früher. Die Preise haben sich auf einem vernünftigen Niveau eingependelt, und das hat für die europäischen Investoren eine einmalige Möglichkeit geschaffen, in den russischen Markt zu investieren. Und man muss sagen, dass Europa uns zeigt, dass es Appetit auf solche Investitionen hat. Natürlich unterscheidet sich das Vorgehen von Land zu Land. In manchen Ländern ist man da eher vorsichtig und wartet eher ab. Frankreich aber hat bereits in Russland investiert und investiert immer noch. Das Gleiche gilt auch für Italien und einige andere europäische Länder.
— Könnten Sie konkrete Beispiele nennen?
— Ich werde keine konkreten Beispiele anbringen, aber ich kann Ihnen Sektoren nennen, die besonders gefragt sind. Ziemlich viele Investitionen erfolgen im Bereich Einzelhandel, was evtl. etwas unerwartet klingt. Aber wenn man sich die Immobilienpreise anschaut, sieht man, dass heute ein guter Zeitpunkt ist, neue Laden- und Lagerräume zu erwerben.
Außerdem steigt in Russland auch die Produktion von landwirtschaftlichen Produkten rasch an. Sehr gefragt sind auch die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und die Produktion von Lebensmitteln. Und genau in diese Bereiche fließen auch die entsprechenden Investitionen. Ich weiß, dass einige Joint-Ventures sich gerade in einem Organisationsprozess befinden. Traditionsgemäß sicher entwickelt sich in Russland auch der High-Tech-Sektor. In Russland gibt es eine Menge guter Unternehmen. Deswegen entstehen auch Joint-Ventures, und es kommt zu Fusionen und Übernahmen. Im Großen und Ganzen entwickelt sich der Markt weiter.
— Aber eine gewisse Anspannung in Bezug auf die Beziehung mit dem Westen bleibt. Einige Unternehmen haben sogar beschlossen, ihre Tätigkeit in Moskau und in Russland einzustellen. Gibt es solche Unternehmen auch unter Ihren Kunden?
— Es sind nur einige wenige, vielleicht drei oder vier Kunden. Dabei sind sie nicht alle ganz gegangen, sondern haben nur ihre Aktivität etwas reduziert. Die Mehrheit aber hat vor, auch weiterhin auf dem russischen Markt zu bleiben. Ich kann nicht sagen, dass ich in letzter Zeit auf Kunden getroffen bin, die wegen politischer Probleme oder wegen internationaler Spannungen darauf verzichtet haben, in Russland zu investieren. Manche Kunden verhalten sich vorsichtig und denken zweimal nach, bevor sie irgendwelche Schritte unternehmen, aber im Großen und Ganzen betrachtet man Russland nicht als ein Land, das für Investitionen zu unsicher ist. Es ist kein einfacher Ort für eine Unternehmensführung, u.a. auch wegen der Sanktionen, aber es ist auch kein Ort, wo politische Risiken so hoch sind, dass sie Investitionen verhindern würden.
— Sie haben die Sanktionen angesprochen. Spüren Sie in irgendeiner Weise ihren Einfluss auf Ihre Tätigkeit?
— Natürlich. So wie viele russische Unternehmen auch. Wegen der Sanktionen haben wir alle zwei Phasen erlebt: Zuerst kam es zu einer Aktivitätsverminderung, wobei die Menschen nicht wussten, wie sie weiterarbeiten sollen, und sie haben nach der Einführung der Sanktionen einen Schock erlitten. Dazu kommt, dass in dieser Zeit eine hohe Rubel-Volatilität herrschte. Heute stabilisiert sich die Situation nach und nach, die Menschen haben sich an sie gewöhnt und suchen nach geeigneten Lösungen. Wenn ich vonseiten der westlichen Politiker höre, dass Russland stark unter den Sanktionen leidet, dann möchte ich sagen, dass das nicht stimmt. Die Russen besitzen eine außergewöhnliche Fähigkeit: Sie sind sehr erfinderisch und passen sich gut an. Genau das ist ihre starke Seite.
— In Russland setzt man heute auf Importsubstitution. Für ausländische Unternehmen impliziert das auch eine Verlegung ihrer Produktion hierher. Inwiefern erscheint so etwas für sie interessant und wirtschaftlich attraktiv?
— Wir spüren eine starke Tendenz, in Russland eine Produktion aufzubauen. Die Spielregeln haben sich geändert. Russland möchte seine eigene starke Produktion aufbauen, und das setzt eine Lokalisierung voraus. Und den ausländischen Investoren ist Folgendes klar: Wenn man hier auf diesem großen Markt, auf welchem man seinen Anteil behalten muss, seine Produkte absetzen möchte, sollte man seine Produktion hierher verlagern. Die Tendenz zur Lokalisierung wurde nicht erst gestern geboren, sie war in den Bereichen Landwirtschaft und Automobilindustrie bereits vorhanden. Heute ist sie allgemeiner geworden. Sowohl Brasilien als auch China und Indien haben sich die Lokalisation der Produktion als Ziel gesetzt. Natürlich hat auch Russland vor, diesen Weg zu bestreiten. Viele unserer Kunden neigen dazu, diese Lösung anzunehmen.
— Wie viele Kunden haben Sie in Russland?
— Insgesamt sind das ca. 600. Wenn wir aber nur aktive Player betrachten, die unsere Dienstleistungen regelmäßig in Anspruch nehmen, dann sind das etwa 100.
— In der Moskauer Niederlassung der CMS sind über 50 diplomierte Juristen beschäftigt. Wer bildet dabei eine Mehrheit: Ausländer oder Russen?
— Wir haben nur sechs Ausländer in unserer Firma.
CMS ist eine internationale Allianz unabhängiger Anwaltskanzleien europäischer Länder (Österreich, Belgien, Großbritannien, Deutschland, Spanien, Italien, Niederlande, Frankreich und Schweiz). Die Allianz wurde 1999 gegründet. Das Unternehmen hat 61 Niederlassungen in 35 Ländern weltweit. Das Unternehmen beschäftigt 3.200 Rechtsanwälte.
Laut „Am Law 2015 Global 100“ belegt CMS den 2. Platz in Bezug auf die globale Abdeckung unter den größten internationalen Anwaltskanzleien, die eine vollständige Palette von Dienstleistungen anbieten. 2015 betrug der Umsatz des Unternehmens über eine Mrd. Euro.
In Russland sind die Anwaltskanzleien, die zu CMS gehören, seit 1992 tätig. Seit dem 1. Januar 2009 wurden die Moskauer Niederlassungen der drei Anwaltskanzleien, die zur Allianz gehören (französische, englische und deutsche Niederlassungen) zu einer juristischen Person fusioniert, der CMS Russia. Juristisch gesehen ist CSM in Russland die Zweigniederlassung des Unternehmens CMS International B.V., das in den Niederlanden registriert ist.
— Die Allianz CMS vertritt die Interessen vieler führender internationaler Konzerne, die laut Zeitung „Financial Times (FT European 500) und laut Magazin „Fortune“ (Fortune 500) auch auf der traditionellen Liste der 500 größten europäischen Unternehmen zu finden sind. In Russland haben Sie auch die größten Player beraten: die Bank WTB, Die Russische Eisenbahn, das „Renaissance Capital Fund“, das Unternehmen GidroOGK usw. Und arbeiten Sie auch mit kleinen und mittleren Unternehmen zusammen?
— Ja, das tun wir. Solche Firmen haben sehr interessante Projekte. Das sind oft kleine Unternehmen, die aber sehr dynamisch in Bezug auf Investitionen sind. Es sind Hersteller von Milcherzeugnissen und Lebensmitteln sowie Einzelhandelsketten. Ich nenne an dieser Stelle keine konkreten Namen, aber wir haben momentan einen Obstzüchter aus Marokko, der sein Business in Russland starten möchte.
Natürlich handelt es sich eher um große Unternehmen aus der Kategorie Mittelstand. Denn der Zugang zum russischen Markt erfordert bestimmte Ausgaben.
1. Bilden Sie Ihre eigene Meinung über Russland.
Vergessen Sie alles, was Sie zuvor in den westlichen Zeitungen und auf dem Weg hierher über Russland gelesen haben.
2. Hören Sie mehr zu.
Kommunizieren Sie, diskutieren Sie viel, treffen Sie Leute. Sie müssen verstehen, was um Sie herum passiert. Ohne geht es nicht.
3. Lassen Sie sich nicht nervös machen.
Und erwarten Sie nicht, dass Sie in allem sofort erfolgreich sind.
4. Überwachen Sie Ihr Business ständig.
Wenigstens bis zu dem Zeitpunkt, bis Sie alle hiesigen Besonderheiten und Trends verstehen.
5. Bleiben Sie immer optimistisch.
In Russland wendet sich sogar das Schlechteste oft zum Besseren.
— Sie meinten doch, dass die Preise durch den Wechselkurs gesunken seien…
— Wenn man alles richtig machen möchte, sollte man seine Geschäfte mit erfahrenen Leuten machen, deren Dienstleistungen dann auch etwas kosten. Es sollten Leute sein, die sich mit dem Markt gut auskennen, lange hier tätig sind und Ihnen über praktische Businessaspekte etwas erzählen können.
Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Viele, vielleicht sogar die Mehrheit, der ausländischen Investoren glauben zuerst, dass alle sich entwickelnden Märkte praktisch gleich sind. Nach dem Motto: Ich weiß, wie es in Brasilien und in Indien funktioniert, warum sollte es in Russland anders sein? Aber hier ist alles anders. Wie übrigens in jedem anderen Land auch. Diejenigen, die von vornherein schon alles wissen, haben in der Regel kaum Erfolg. Eine große Einzelhandelskette in den USA und in Europa (ohne den konkreten Namen zu nennen) dachte, dass sie mit ihren internationalen Erfahrungen und mit ihrem Volumen den russischen Markt schon von vornherein für sich gewonnen hat. Aber letzten Endes hatte sie keinen Erfolg und musste den Markt wieder verlassen. Man muss die Regeln in jedem konkreten Land verstehen können, sowohl die geschriebenen als auch die ungeschriebenen. Erst wenn Sie die jeweilige Situation gut erfassen können, können Sie hier auch Ihre Mittel investieren. In einem solchen Fall kann man auch mit einer hohen Investitionsrendite rechnen.
— Also gibt es bestimmte rein russische Regeln der Businessführung? Wie unterscheidet sich unsere Gesetzgebung von der europäischen?
— Auf dem Papier unterscheidet sich Ihr juristisches System kaum von dem französischen oder dem deutschen. Seine Besonderheit liegt evtl. darin, dass es sich ständig verändert. Aber zum Besseren. Heute lässt sich das Businessklima in Russland in Bezug auf die Gesetze mehr oder minder mit den anderen Industrieländern vergleichen. Das Gesetzessystem funktioniert. Die Rechtspraxis in Russland ist natürlich noch nicht soweit entwickelt, dass dieses System ganz stabil bleibt. Dafür braucht man Zeit. Aber wenigstens in einem Punkt finde ich Ihr juristisches System ausgezeichnet: Es arbeitet schnell.
— Wie meinen Sie das?
— Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung können wir die höchste Revisionsinstanz innerhalb von nur 18 Monaten erreichen.
— Und das ist schnell?
— In Frankreich z.B. kann so ein Prozess bis zu fünf oder sieben Jahre dauern.
— Aus dem, was Sie sagen, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es für einen ausländischen Unternehmer nicht einfach ist, sein Business in Moskau zu starten…
— Wenn Sie dabei bestimmte bürokratische Verfahren meinen, dann unterscheidet sich die russische Bürokratie nicht besonders stark von der europäischen. Aber der Unterschied besteht darin, dass die Situation in Russland sich immer weiter verbessert. In den letzten zehn Jahren meiner Tätigkeit in Moskau konnte ich ernsthafte Verbesserungen im administrativen System beobachten, und auch Businessprobleme verringern sich. Es ist alles noch nicht ideal, aber es gibt riesige Fortschritte.
— Im Rahmen Ihrer Tätigkeit haben Sie es geschafft, in Europa, in Amerika, in Asien und im Nahen Osten zu sein. Und jetzt sind Sie bereits seit zehn Jahren in Moskau. Haben Sie sich dafür bewusst entschieden?
— Ach, das ist eine lange Geschichte. Und sie ist älter als zehn Jahre. Noch in meiner Jugend habe ich den Roman von Jules Verne „Michael Strogoff“ bzw. „Der Kurier des Zaren“ gelesen und stellte mir dabei Russland als ein riesiges Abenteuerland vor. Ich kam nach Russland zum ersten Mal zum Zeitpunkt des Untergangs der UdSSR. Ich arbeitete für ein großes französisches Unternehmen, das Anlagen an die Unternehmen im Bereich der Erdöl- und Erdgasindustrie verkaufte. Dabei besuchte ich nicht nur Moskau, sondern auch die russische Provinz. Ich mochte dabei Saratow ganz besonders. Ich war fasziniert von Russland. Und als ich Anfang 2000 aus Houston zurückkam und davor bereits drei mittlere Unternehmen in Frankreich gegründet hatte, bekam ich von der Unternehmensleitung ein Angebot, in der Niederlassung in Russland zu bleiben. Ich zögerte keine Minute und sagte sofort zu.
Doch als ich 2006 erneut nach Moskau kam, erlebte ich einen Schock: Alles hatte sich verändert. Das was eine ganz andere Stadt: unglaublich viele Autos, Restaurants, Supermärkte, überall Neonwerbung usw. Das war ganz weit weg von dem ruhigen und stillen Moskau, das ich kannte. Obwohl man hier immer noch einige Elemente des Wilden Westens finden konnte. Doch nach und nach wurde alles organisierter. Noch vor zehn Jahren hatte Moskau nicht das Niveau der großen Hauptstädte der Welt. Und heute übertrifft es diese in vielerlei Hinsicht. Moskau ist eine schöne und lebendige Stadt. Und es wird auch immer sauberer. Die Infrastruktur und die Verkehrsanbindungen werden auch immer besser. Die letze Neuerung ist z.B. der Passagier-Verkehr auf dem Kleinen Eisenbahnring und seine Anbindung an das Metro-Netz. Das ist sehr bequem und löst ernsthafte Probleme. Ich fühle mich hier wie zuhause. Als ich 2006 gerade nach Moskau kam, konnte ich das von mir noch nicht behaupten. Heute sieht das schon anders aus.
— Und Sie sind rundum zufrieden? Oder fehlt Ihnen doch noch etwas?
— Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll… Mir fehlen in Moskau z.B. gute Restaurants mit russischer Küche, die ich sehr mag. Es gibt davon noch sehr wenige, was ich persönlich nicht nachvollziehen kann. Es gibt ja viele Restaurants mit anderen nationalen und internationalen Küchen. Aber gute Restaurants mit russischer Küche sind Mangelware… Ansonsten kann man in Moskau alles finden, was man braucht. Im Moment fehlt leider der französische Käse. Aber es kommen meine Landsleute, die Schweizer und die Italiener, die ihre Käsesorten hier produzieren wollen. Also ist das alles nicht ganz so schlecht.
— Lebt Ihre Familie auch in Moskau?
— Nur ein Teil meiner Familie. Meine Söhne sind schon erwachsen, sie arbeiten und leben getrennt von uns. Hier lebe ich zusammen mit meiner Frau und meiner jüngsten Tochter.
— Und was machen Sie in Moskau in Ihrer Freizeit? Wie erholen Sie sich?
— Meine Tochter ist erst vier Jahre alt, daher gehen wir nicht so oft aus. Aber wir fahren häufig aus der Stadt raus und besuchen das Moskauer Umland. Dort gibt es wirklich sehr schöne Orte. Und ich treibe Sport: Ich fahre mit meinem Rad die Moskauer Uferpromenade entlang, von Museon bis Luschniki und Presnja.
— Auf der Webseite des Unternehmens CMS steht, dass Sie Französisch, Englisch und Russisch sprechen. Haben Sie Russisch hier gelernt?
— Ja, ich habe damit direkt nach meiner Ankunft hier angefangen. Aber ich muss zugeben, dass es mit meinem Russischen noch nicht so weit her ist.
— Da sind Sie zu bescheiden. Kann ein ausländischer Geschäftsmann in Moskau auch ohne Russischkenntnisse auskommen?
— Eigentlich kann man in Moskau auch ohne Russischkenntnisse zurechtkommen. Aber ich glaube, dass alle, die hierher der Arbeit wegen kommen, die russische Sprache unbedingt brauchen. Heute gibt es auch in den Chefetagen der internationalen und ausländischen Unternehmen, die in Moskau tätig sind, immer mehr russische Top-Manager. Und wenn man sie trifft, sollte man zumindest verstehen, worüber sie sprechen.