— Wie wurden Sie Arzt?
— Ich komme aus einer einfachen, schlecht situierten Familie: Mein Vater war Zimmermann, meine Mutter Hausfrau. Und ich habe die beiden leider sehr früh, mit 19, verloren
Ich wurde Arzt, wenn man so sagen darf, durch Zufall: Vier Jahre habe ich an der University of Wisconsin–Madison verbracht: Ich studierte Biochemie und interessierte mich für Genetik, was eher eine Medizin-Beilage darstellt. Ich überlegte damals, mich der Forschung zu widmen.
Robert Young ist Medizinprofessor, Leiter des Zentrums für Allgemeinmedizin und leitender Allgemeinarzt in der Privatklinik GMS in Moskau.
Er wurde vor 69 Jahren in Kalifornien geboren. Er studierte Biochemie an der University of Wisconsin–Madison. Er absolvierte 1974 das Albert Einstein College of Medicine an der Yeshiva University in New York. Einige Jahre spezialisierte er sich im Bereich Notfallmedizin. Er forschte und lehrte 18 Jahre lang an der University of Kentucky, wo er auch seinen Professortitel erhielt. Neben Notfallmedizin spezialisierte er sich auch im Bereich Pädiatrie und Allgemeinmedizin.
Er ist Mitglied des Berufsverbandes der Notärzte in den USA (Fellow of American College of Emergency Physicians, ACEP).
Er übernahm 1998 die Leitung einer Arztpraxis der Moskauer Niederlassung einer Gruppe amerikanischer Kliniken.
Leitet seit seiner Gründung 2008 das Zentrum für Allgemeinmedizin am medizinischen Diagnostik-Zentrum GMS Clinic.
— Danach haben Sie selbst viel unterrichtet…
— Ja. Ich praktizierte einige Jahre, hauptsächlich im Bereich Notfallmedizin bzw. Nothilfe. Das ist nicht ganz das, was ein russischer Notarzt ist. Da geht es um ein umfassenderes Tätigkeitsspektrum. Und das ist überhaupt nicht das, was in der beliebten amerikanischen Serie „Emergency Room“ präsentiert wird.
— Was bedeutet für Sie „Hausmedizin“?
— Das ist eine systematische Herangehensweise im Bereich Gesundheitsvorsorge für die ganze Familie. Ein Hausarzt kann eine genetische Pathologie, bestimmte Zusammenhänge zwischen Krankheit, menschlicher Lebensweise und sozialen Bedingungen untersuchen sowie eine Prävention von möglichen Erkrankungen gewährleisten. Das ist kein einfacher Therapeut, der eine anfängliche Untersuchung durchführt und seine Patienten dann an einen Facharzt weiterleitet. Ein Hausarzt muss selbst ein Facharzt in vielen Bereichen sein: in der Augenheilkunde, in der Pädiatrie, in der Gynäkologie, in der Reanimationsmedizin usw. Er muss selbstständig eine Untersuchung seiner Patienten in einer Klinik mit moderner Technik durchführen können. Er überweist seine Patienten an einen Spezialisten nur dann, wenn dies die von ihm bereits gestellte Diagnose erfordert.
— Und was führte einen amerikanischen Professor nach Moskau?
— 1996 bat mich eine amerikanische Organisation, die mit den Kliniken in Osteuropa zusammenarbeitete, nach Warschau zu kommen und dort zu arbeiten. Einige Male war ich auch in Moskau, wo meine Arbeitgeber ihre größte Klinik hatten. Und zwei Jahre später wurde mir angeboten, hier die medizinische Leitung zu übernehmen. Seitdem lebe ich in einer wunderschönen Stadt, in Moskau.
— In den USA werden russische Medizinabschlüsse nicht anerkannt. Wurde Ihr Abschluss in Russland akzeptiert?
— Ich musste einige Prüfungen ablegen. Allerdings waren sie nicht so schwer wie die Prüfungen, die eure Ärzte in Amerika ablegen müssen.
Die GMS Clinic Moscow ist ein fachübergreifendes medizinisches Diagnostik-Zentrum, eine Privatklinik, die Teil der Unternehmensgruppe Global Medical System Clinics and Hospitals ist. Sie ist seit 2008 geöffnet.
Die medizinische Betreuung bei GMS Clinic basiert auf westlichen und russischen Kliniken-Leitlinien und Standards der evidenzbasierten Medizin. Das ist eine Herangehensweise an die medizinische Praxis, bei welcher alle Entscheidungen über Anwendung von präventiven, diagnostischen und medizinischen Maßnahmen nur auf Grundlage vorhandener Beweise für ihre Sicherheit und Notwendigkeit getroffen werden.
— Gibt es in Russland viele amerikanische Ärzte?
— Ich kenne zwei. Eine geborene Russin, die ganz jung nach Amerika immigrierte, dort ihren Abschluss machte und nach Russland zurückkehrte. Und einen anderen Arzt, er ist hier genauso lange wie ich. Er kommt von der NASA, der nationalen Raumfahrtbehörde der USA, und arbeitet bereits seit 15 oder 20 Jahren in Swesdnyj gorodok.
— Eine indiskrete Frage: Wie verhält sich Ihr Gehalt in Moskau zu dem, was Sie in den USA erhielten?
— Hier verdiene ich weniger. Aber das Geld war für mich nie der entscheidende Faktor.
— Anscheinend fühlen Sie sich in Moskau ganz wohl. Vermutlich haben Sie mit der Zeit auch bestimmte Lieblingsorte für sich entdeckt?
— Ja, natürlich. Das ist der Botanische Garten „Aptekarskij Gorod“ auf dem Mir-Prospekt. Früher habe ich dort in der Nähe gearbeitet. Damals war das ein dschungelartiger, völlig verwahrloster Ort, weil sich jahrelang niemand um den Garten kümmerte. Später hat man dann alles gesäubert, um- und neu bepflanzt. Heute ist das ein schöner Ort, in den ich regelrecht verliebt bin.
— Ihre Meinung als Alteingesessener in Moskau: Wie stark hat sich die Stadt in den letzten 20 Jahren verändert?
— Vieles hat sich verändert. Obwohl – wenn man hier ständig lebt, merkt man das nicht so stark. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch. Damals war es in Moskau sehr schwer, normale Lebensmittel und Sachen zu kaufen. Vieles musste man aus den USA mitbringen, sogar seine Zahnbürste. Heute kann man hier ganz normal leben, vor allem wenn man weiß, was man dafür tun kann.
— Das wissen Sie bestimmt. Und was würden Sie Ihren Landsleuten empfehlen, die Ihrem Beispiel folgen und der Arbeit wegen hierher kommen möchten?
— Als erstes sollte man nicht alles glauben, was über Moskau, über Russland und über russische Menschen im Westen berichtet wird. Zum großen Teil stimmt das nicht. Man sollte hierher mit offenem Herzen kommen, sich in Ruhe umschauen und beginnen, sich seine eigene Meinung zu bilden. Zuerst muss man vielleicht autark unterwegs sein, doch nach und nach lernt man die Menschen kennen, die einem helfen können. Die erste Zeit wird vielleicht nicht so einfach sein. Nach meiner persönlichen Erfahrung reichen in der Regel sechs Monate, bis man sich in Moskau eingelebt hat.
— Hat Ihnen diese Zeit gereicht?
— Bereits bei meinem ersten Besuch habe ich mich wie ein Fisch im Wasser gefühlt. Das Moskau der 1990er Jahre erinnerte mich an etwas zwischen dem Wilden Westen und dem New York der 1960er Jahre in meiner Jugendzeit. Zuerst hatte ich Sprachprobleme, aber die Menschen um mich herum schenkten mir großzügig ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit und halfen mir. Ich habe mich hier nie verloren gefühlt. In Moskau gewann ich vermutlich die besten Freunde meines Lebens.
— Wer sind Ihre Freunde?
— Im Großen und Ganzen sind das die Russen. An meinem Geburtstag habe ich einen Kurzurlaub genommen und fuhr dahin, wo es kein Internet gibt. Das war unglaublich gut! Als ich zurückkam, hatte ich 170 Geburtstagsgrüße bekommen, und 95% von ihnen kamen von meinen russischen Freunden.
— Aber die Mentalität und Kultur unterscheiden sich schon voneinander…
— Natürlich gibt es da Unterschiede. Die Russen kümmern sich z.B. mehr um ihre Familien, sie hängen sehr an ihnen. In meiner Jugendzeit hatten wir auch eine sehr starke Familienverbundenheit, aber die Zeiten haben sich verändert. In Russland aber ist die Kultur auch weiterhin familienorientiert. Ich finde das sehr schön.
— Wir haben gehört, dass Geschichte Ihr Hobby ist. Welche Geschichte genau?
— In erster Linie die Geschichte der Medizin. Ich finde es spannend, zu erfahren, wie wir dazu gekommen sind, was wir jetzt haben, und wer die Menschen sind, die bei den Ursprüngen der Medizin dabei waren. Ich interessiere mich auch für die Geschichte meines Landes, die ich mittlerweile ganz gut kenne, und für die russische Geschichte, die ich jetzt gerade studiere. Außerdem finde ich die Geschichte des Jazz und des Tauchens spannend…
— Sogar des Tauchens?
— Ich liebe es zu tauchen. Es gab mal Zeiten, als ich meinen Beruf als Mediziner wegen des Tauchens fast aufgab. Was mir in Moskau fehlt, ist das Meer. Ich liebe das Mehr über alles! Eine Zeit lang habe ich in Florida direkt am Meer gelebt. Das war wie im Paradies!
— Man kann ja seinen Urlaub am Meer verbringen…
— Ich ziehe es vor, durch Europa zu reisen. Ich habe gerade einige Tage in Lissabon und Malaga verbracht. Dafür ist Moskau ganz gut gelegen: Am Wochenende kann man Rom, mein geliebtes Berlin oder auch Kiew besuchen, das ich auch sehr mag. Von Amerika ist der Weg nach Europa langwieriger…
— Und besuchen Sie oft Ihre Heimat?
— Ja, das kommt schon vor. In den USA habe ich fast ein halbes Jahrhundert verbracht. Ich bleibe in Kontakt mit meinen Lieben. Aber ich möchte dort nicht bleiben. Wenn es möglich wäre, die Vergangenheit zurückzudrehen, würde ich viel früher hierher kommen.
— Und wie verbringen Sie hier Ihre Freizeit?
— Ich schlafe aus (lacht). Ich treffe mich mit Freunden. Ich besuche meine Freunde auf ihren Datschas. Aber ich mag es nicht, zu lange von der Klinik fern zu bleiben. Nach drei oder vier Tagen fange ich an, nervös zu werden: „Wie läuft es in der Klinik ohne mich, ich muss wieder hin etc.“.
— Man sagt, Moskau sei für Ausländer eine teure Stadt …
— Es ist teurer als in New York, hier eine Wohnung zu mieten. Allerdings ist die Miete stark bezirksabhängig. Meine Regel lautet: neben der Klinik wohnen. Ich habe keine Familie und lebe allein. Ich habe auch kein Auto, ich bin bereits seit etwa 20 Jahren kein Auto mehr gefahren. Dafür verzichte ich auf eine Menge Probleme: parken, tanken etc. Als ich in unserem ersten Gebäude der Klinik in Marjina Roschtscha tätig war, hatte ich auch meine Wohnung in der Nähe. Heute lebe ich hier, auf der Smolenskaja, fünf Gehminuten von der Klinik entfernt.
— Wo wir auf das Thema Essen zu sprechen kommen: Welche Küche mag ein amerikanischer Professor in Moskau?
— Ganz unterschiedlich, u.a. auch die russische Küche. Aus der russischen Küche mag ich, glaube ich, als einziges nur die Fischsülze, die gern als Neujahresgericht serviert wird, nicht besonders.
— Glauben Sie, dass es gefährlich ist, in der russischen Hauptstadt zu leben?
— Moskau ist vermutlich eine der sichersten Städte, die ich kenne.
— Glauben Sie, dass Sie erfolgreich sind?
— Ja, das glaube ich. Ob ich im Leben alles erreicht habe, was ich wollte? Das hoffe ich doch. Hat bei mir alles funktioniert? Zweifellos ja. Ich habe immer alles getan und tue immer noch, was in meiner Macht steht. Ich hatte und habe eine erfolgreiche Zeit. Im Großen und Ganzen bin ich ein glücklicher Mann.
— Findet sich Moskau in Ihren Zukunftsplänen wieder?
— Ich glaube, dass ich hier bis zum Ende meiner Tage zu bleiben werde. Das habe ich zumindest vor.
Wir haben uns vor dem Klinikeingang verabschiedet. An der Rezeption begrüßen freundliche junge Frauen die Besucher. Doktor Young lächelte schelmisch und meinte: „Sie haben mir noch nicht die Frage aller Fragen gestellt, nämlich was ich an der GMS Clinic am meisten schätze“. Und seine Antwort auf diese Frage lautete: „Hier bin ich immer von schönen Frauen umgeben.“