Wie die Perestroika begann
Bevor ich nach Moskau kam, habe ich in den USA als Jurist in einer großen amerikanischen Kanzlei gearbeitet, die auf Immobilien spezialisiert war. Unter meinen Kunden waren alle möglichen Bauträgerunternehmen und Banken. Als im Westen die große Banken– und Hypothekenkrise begann und die Arbeit knapp wurde, beschloss ich eine Auszeit zu nehmen und mich mit dem Betreiben eines Business in Russland zu beschäftigen. Mir kann das wie ein verrücktes Abenteuer vor. Ich habe mir das so überlegt: Ein bis zwei Jahre arbeiten, bis sich die Marktsituation stabilisiert. Ein paar Eindrücke sammeln, dann zurück zu meinem vorherigen Leben.
Die Unternehmensgruppe GVA Sawyer (Teil des globalen Netzes GVA Worldwide) ist seit 1993 auf dem russischen Markt für Gewerbeimmobilien tätig. Die Dienstleistungspalette ist breit: Bauträgerschaft, Bauleitung, Beratung, Immobilienhandel, Kapitalmarktdienstleistungen. Es gibt Niederlassungen in Moskau, Sankt Petersburg, Krasnodar, Krasnojarsk. Auf der Webseite des Unternehmens finden sich im Augenblick ungefähr 30 Investitionsangebote mit einer Gesamtsumme von 100 Mio. US Dollar.
Das war 1991, als die UdSSR noch existierte, die Macht aber bereits von der KPdSU auf den Rat der Volksdeputierten übergegangen war, dem ersten Parlament in der Geschichte der Sowjetunion. Ich kam nach Russland aus dem warmen Atlanta, als es in der russischen Hauptstadt noch schneite. Ich musste mich an ein anderes Klima gewöhnen, an ein anderes Land… Ich habe mich kopfüber in die Arbeit gestürzt, wurde stellvertretender Generaldirektor des Joint-Venture-Unternehmens „Perestroika“. Die spezielle Form dieses Unternehmens war damals von Präsident Michail Gorbatschow genehmigt wurde. Es war das erste Bauträgerunternehmen für Gewerbeimmobilien in der UdSSR. Wir bauten neue moderne Bürogebäude und hatten dabei unbegrenzte Möglichkeiten. Es war unglaublich spannend!
– Neben dem Englischen sprachen Sie auch fließend Deutsch. Wie sah es mit dem Russischen aus?
– Ich konnte kein Russisch, und das war ein großes Problem, denn in den 90er Jahren gab es nicht so viele Russen, die Englisch sprechen konnten. Die Kommunikation gestaltete sich daher eher schwierig. Daher hatte ich keine andere Wahl, als vom ersten Tag an, Russisch zu lernen. Ich gebe zu, ich beherrsche immer noch nicht alle Regeln der russischen Sprache; die Sprache ist schwierig und lässt sich nicht einfach vom reinen Zuhören lernen.
Es gab keinen Markt, keine Geschäftskultur. Nur wenige in Russland kannten das Wort „Bauträger“.
– Und mit welchen Problemen hatten Sie zu kämpfen?
– Probleme gab es auf Schritt und Tritt. So konnte man zum Beispiel nicht einfach so Schotter kaufen. Es gab keinen Markt, keine Business-Kultur, einfach gar nichts. Und kaum jemand in Russland wusste, was das Wort „Bauträger“ bedeutete. Ich musste dann erklären, dass dies ein Unternehmer ist, dessen Business daran besteht, neue Immobilienobjekte zu schaffen und daran zu verdienen. Ich weiß noch, wie wir versucht haben, einige Baugrundstücke zu erwerben und die Besitzer uns einfach irgendwelche Preise nannten. Wir versuchten zu erklären, nach welchem Prinzip die Grundstückpreise bestimmt werden, und hörten als Antwort: „Das interessiert uns alles nicht. Und es ist uns egal, welche Gewinne man später erzielen kann. Ihnen ist doch wichtig, dass ihr Gebäude an einem prestigeträchtigen Ort steht, oder? Wozu brauchen Sie noch Gewinne?“
Der Bauprozess verlief auch nicht ganz einfach. Am schwierigsten war es, das System mit seinen vielen Erlaubnissen und Begrenzungen zu erfassen. Es bestand noch das sowjetische System, das auf einer zentral gesteuerten Wirtschaftsplanung basierte und seine eigenen Regeln hatte, die sich stark von den westlichen unterschieden.
Beamte nehmen mit Freude Geld, verlangen dann aber trotzdem, dass das Projekt gesetzeskonform ist.
Viele ausländische Unternehmer, die nach Russland kommen, meinen, dass dies ein Dritte-Welt-Land sei und dass man die hiesigen Regeln nicht ernst zu nehmen brauche, denn sie seien ja nur dafür da, um Schmiergelder zu erpressen. Aber dem ist nicht so! Das System und die Regeln sind echt, und man sollte die Gesetze achten. Und das schließt nicht ein, dass man Schmiergelder zahlt. Einzelne Beamte nehmen zwar das Geld gerne an, aber sie zwingen dich trotzdem dazu, deine Arbeit gesetzeskonform zu erledigen.
Dieses System ist sehr tiefgreifend und gar nicht dumm; viele Regeln gelten immer noch. Es ist eine große, meist langjährige Aufgabe zu verstehen, wie dieses System funktioniert. Aber es hat auch seine Macken. Die ganze Welt tickt nach den marktwirtschaftlichen Prinzipien; es muss eine Balance geben, was wie viel kostet und welches Ergebnis man damit erzielt. Wir werden keine Million Dollar für jedes Gebäude extra ausgeben, um zum Beispiel ein Feuer fünf Sekunden früher als mit der normalen Technik erkennen zu können. Es rentiert sich nicht, und wir sparen unser Geld. Das sowjetische System funktionierte unwirtschaftlich, denn es kannte es nicht besser. Und das heutige russische System ist sein Erbe. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich hörte, dass die Küche nach bestimmten Hygienevorschriften in einem Hotel um das Dreifache größer sein sollte als notwendig. Und der Weg für die Müllabfuhr sollte den Weg des Lebensmittelzustellers nicht durchkreuzen. Um eine solche Küche zu projektieren, braucht man eine große Fläche, was ich für irrational halte. Insgesamt hat man als ein Architekt in Russland nicht solche Freiheiten wie im Westen, was aber meistens nicht so schlimm ist.
Alle wollen heute verdienen
– Wann haben Sie Ihr eigenes Unternehmen gegründet?
– Im Januar 1993 verließen ich und meine drei russischen Geschäftspartner „Perestroika“ und gründeten das Unternehmen „GVA Sawyer“.
– Gab es Schwierigkeiten mit der Raummiete?
– Damals konnte man nicht so einfach hingehen und ein Büro mieten. Damals gab es praktisch keine Büros. Es existierten administrative Gebäude, vollgespickt mit den Strukturen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion übriggeblieben waren. Man konnte irgendwelche Organisationen bestechen und einen Raum illegal mieten. Aber wir brauchten keinen Raum, sondern ein normales Büro, um dort unsere Geschäftspartner zu empfangen. So haben wir uns mit einem anderen Unternehmen zusammengetan, dessen Geschäftspartner eine Villa auf dem Nowinskij Boulevard besaßen. Die Fläche dort war größer als wir brauchten. Alle Ausgaben haben wir untereinander geteilt; wir hatten eine gemeinsame Sekretärin und einen gemeinsamen Übersetzer. Diese Lösung war durchaus sinnvoll.
Insgesamt hat man als ein Architekt in Russland nicht solche Freiheiten wie im Westen, was aber meistens nicht so schlimm ist.
Später konnte man die Büroräume auch mieten. Die Firmen und die Unternehmen bezahlten damals zwischen 800 – 1.200 US Dollar pro m2 im Jahr. Nach der Krise 1998 fielen die Preise; sie betrugen zwischen 400 – 450 US Dollar pro m2. Heute zahlt man durchschnittlich, wie 1991, 800 US Dollar pro m2.
– Was können Sie über die russische Mentalität sagen?
– Die Business-Kultur in Russland lässt immer noch zu wünschen übrig. Alle wollen bereits heute verdienen, egal, was sie dafür tun müssen und egal, was morgen kommt. Viele sind auf das schnelle Geld aus. Das ist die russische Business-Philosophie heute. Aber wir wollen abwarten. In Russland gibt es bereits eine Mittelschicht und eine Manager-Klasse. Es gibt auch eine große Anzahl von Großkonzernen, die sich professionell mit dem Einzel– und Großhandel auseinandersetzen, die ihre Mitarbeiter gut leiten können und die etwas von Management-Ethik verstehen.
Es gibt aber ein Problem mit der Korruption innerhalb der Unternehmen. So sprechen sich im Baubusiness einzelne Lieferanten und Auftragnehmer über einen sogenannten „otkat“ (eine Art Bestechung) ab. Sie begehen Diebstähle und bringen ihre Karrieren in Gefahr, nur um heute verdienen zu können. Das ist eine Frage der Mentalität. Früher konnte man sagen: Ja, ich tue das, weil ich ein zu geringes Gehalt bekomme. Heute ist das Gehaltsniveau im Baubereich angemessen hoch, aber die Menschen, die noch im alten System großgeworden sind, stehlen weiter.
Was bedeutet „otkat“?
Es ist kein juristischer Fachbegriff, sondern ein Jargon-Ausdruck. Es bedeutet eine Art Bestechung von Entscheidungsträgern in Bezug auf die Verwendung von Finanzmitteln in einem Unternehmen. Der Kundenvertreter, der die Entscheidung getroffen hat, bei einem speziellen Verkäufer zu kaufen, bekommt vom Verkäufer einen festen Betrag oder einen prozentualen Anteil der Verkaufssumme als Belohnung.
– Gab es Fälle, wo Sie von den russischen Geschäftspartnern im Stich gelassen wurden?
– Ja natürlich. Das passiert hier genauso wie auch in einem anderen Land der Welt. Es gibt Menschen, die einen großen Wert auf ihren Ruf legen, und es gibt auch andere Menschen, die für eine bessere Verdienstmöglichkeit auch betrügen würden. Daher muss man mit neuen Geschäftspartnern sehr vorsichtig sein und sich vorher absichern. Aber die russischen Unternehmer, mit denen ich jetzt zusammenarbeite, sind sehr verlässliche Geschäftspartner.
Hier gibt es viel zu bauen…
– Und klappt es mit dem Anziehen westlicher Investoren?
– Unser Business hängt sehr stark von westlichen Investitionen ab. Ich unternehme häufig Geschäftsreisen, fast jeden Monat bin ich in London, wo ich mich mit ausländischen Investoren treffe und diese davon überzeuge, in russische Projekte zu investieren. Und jedes Mal bin ich sehr überrascht, wie wenig sie darüber Bescheid wissen, was in diesem Land passiert. Manchmal werde ich auch gefragt, ob in Russland überhaupt so etwas wie Privateigentum existiert und ob dort die Bürger das Recht haben, ein Grundstück zu besitzen. Und ich muss dann erzählen, dass der Verbraucherboom in Russland bereits seit zwölf Jahren anhält. Aber man stellt sich Russland als ein sehr armes Land vor. Und ich werde manchmal gefragt: „Haben die Russen auch Handys?“. Und da muss ich erklären, dass bereits 2000 in Russland die Zahl der Mobiltelefone die Gesamtbevölkerungsanzahl überschritten hat. Die Überraschung ist dann groß.
Russland stellt man sich bis heute als armes Land vor. Manchmal werde ich gefragt: „Haben die Russen eigentlich Handys?“
– Wenn Sie jetzt in Amerika gearbeitet hätten, wie würde sich Ihr Business dort von dem in Russland unterscheiden?
– Ich hätte weniger gearbeitet und hätte weniger Kopfschmerzen. Aber mein Leben wäre dann auch viel langweiliger. Ich hätte ja nach zwei Jahren in Russland in die USA zurückkehren und dort als Anwalt arbeiten können. Aber die Jahre in Russland waren so unglaublich interessant für mich, dass ich mich nicht dazu durchringen konnte, zurückzukehren und bin so in Russland 20 Jahre „hängengeblieben“.
– Man sagt, dass die Russen und die Amerikaner viel gemeinsam hätten …
– Ja, was rein geografisch bedingt ist, denn das ist die Mentalität eines großen Landes. Ein Mensch, der viel Raum, große Territorien und viele Möglichkeiten hat, benimmt sich ganz anders als ein Mensch, der in einem kleinen Land lebt, wo man eher verschlossen und vorsichtig ist. Die Menschen, die auf großen Territorien leben, sind eher freundlicher und offener.
Alle fürchten dieses „wilde Land“. Waren sie aber erst mal eine Weile hier, flehen sie darum, bleiben zu können.
– Lohnt es sich für einen Ausländer, nach Russland zu fahren, um dort sein Business zu starten?
– Natürlich. In Bezug auf Business ist hier das Zentrum der Welt. Der beste Platz überhaupt! Hier wächst alles und man hat hier noch sehr viel zu bauen. Im Westen herrscht Stagnation, dort gibt es bereits alles, und es ist alles gebaut worden. Alle Nischen sind besetzt. Alles, was man braucht, ist vielleicht die Renovierung alter Gebäude. In Russland gibt es viel zu tun. Daher gibt es hier so viele von uns, Amerikaner allein ca. 50.000 – 60.000.
Oft erlebe ich folgendes Phänomen. Viele ausländische Unternehmen, die ihre Büros in Moskau betreiben, beklagen sich darüber, dass es schwer sei, Mitarbeiter nach Moskau zu versetzen. Sie haben eine starke Fluktuation: Ihre Manager müssen alle drei Jahre ihren Arbeitsplatz wechseln und aus einem in das nächste Büro umziehen. Das sollte dem Austausch von Technologien, Erfahrungen und Kenntnissen dienen. So arbeitet zum Beispiel ein Verkaufsmanager zuerst in London, dann in Berlin usw. Nach Moskau will aber zuerst keiner fahren. Und man muss den Managern mehr Gehalt anbieten, damit sie dem Umzug zustimmen. Alle haben Angst vorm „wilden Land“. Wenn aber ihre Zeit in Russland abläuft und sie in ein anderes Land umziehen sollen, betteln sie darum, in Russland bleiben zu können. Und es stimmt, denn das Leben hier steckt voller Überraschungen. Die „schlimmen 90er“ gehören der Vergangenheit an. Man sollte nicht glauben, dass es hier schlimmer als in irgendeinem Ghetto in New York zugeht und man überall seinen Bodyguard mitnehmen muss. Moskau ist eine sehr zivilisierte Stadt, sauber und mit einer relativ niedrigen Verbrecherquote. Hier kann man bis zum Morgengrauen durch die Straßen laufen. Und das Kulturleben in Moskau ist auf einem sehr hohen Niveau: Hier sind über 100 professionelle Theater in Betrieb. Ich genieße jede neue Aufführung. Und wenn Sie von Moskau genug haben, können Sie den Schnellzug „Sapsan“ nehmen, der Sie innerhalb von nur 3,5 Stunden nach Sankt Petersburg bringt. Um alle Winkel Russlands zu bereisen, reicht aber das ganze Leben nicht.