— Wie plötzlich kam Ihnen der Gedanke von einer Arbeit in Russland?
— Der Gedanke kam ganz unerwartet. Es lag eines Tages eine Weltkarte vor meinen Augen, ich begann diese genauer zu betrachten, und plötzlich kam der Gedanke: „Russland ist eigentlich das größte Land der Welt. Und es hat ganz bestimmt ein Riesenpotential und gigantische Möglichkeiten, um voranzukommen“.
— Und Sie haben daraufhin beschlossen, sofort nach Russland zu reisen?
— Nein, der Gedanke war nicht sofort da. Zuerst habe ich mich für die russische Geschichte und Literatur interessiert. Ich habe Dostojewski gelesen, und nach einiger Zeit wurde mir klar: Es ist an der Zeit, alles mit eigenen Augen zu sehen. Ich habe mich hierbei für Sankt Petersburg entschieden. Als ich aber mein Flugticket in einer Reiseagentur kaufte, hatte keiner von den Mitarbeitern der Agentur die Vorstellung gehabt, wo sich diese Stadt befinden könnte.
— Das war wohl eine ziemlich merkwürdige Reiseagentur.
— Nein, überhaupt nicht. Glauben Sie mir: In Südkorea weiß man immer noch nur sehr wenig über Russland. Ich konnte keine einzige koreanische Internet-Seite finden, die über Russland berichtet hätte. Nicht einmal eine entsprechende Reiseagentur-Seite konnte ich ausfindig machen.
Als ich bereits in Sankt Petersburg lebte, habe ich sogar eine Frage an das Kulturministerium der RF gestellt: Man macht Werbung für die Reisen nach Südkorea, aber wieso lädt keiner die Südkoreaner ein, nach Russland zu kommen?
— Und laden Sie Ihre Freunde ein, Russland zu besuchen, wenn Sie mal wieder in Ihrer Heimat sind?
— Natürlich! In meiner Studentenzeit in Sankt Petersburg war ich ein aktiver Blogger. Ich berichtete meinen Landsleuten über mein Leben in Russland, meine Erlebnisse und meine Bekanntschaften. Ich wollte unseren koreanischen Internet-Usern Ihr Land etwas näher bringen.
— Und setzen Sie Ihre Tätigkeit auch weiter fort?
— Heute habe ich dafür leider keine Zeit mehr. Aber ich denke immer noch daran, eine koreanische Internet-Seite einzurichten, um dort aktuelle und objektive Informationen über Russland zu verbreiten. Ich hoffe, dass es irgendwann einmal dazu kommen wird.
— Und wie haben Ihre Verwandten bei einem solchen Informationsvakuum auf Ihre Idee, in Russland zu arbeiten, reagiert?
— Sie waren schockiert. Meine Mutter hat sogar geweint.
Ingo Jung wurde vor 39 Jahren in Seoul, der Hauptstadt der Republik Korea, geboren.
Machte in seiner Heimat einen Universitätsabschluss als Maschineningenieur. Leistete seinen Wehrdienst in der koreanischen Armee. Arbeitete zuerst als Programmierer, später in einem Unternehmen, das sich auf Biotech spezialisiert hatte.
Im Jahre 2003 kam er nach Russland, wo er an der Staatlichen Universität in Sankt Petersburg die Fächer Russisch und Internationale Beziehungen studierte.
Im Jahre 2006 zog er nach Moskau und arbeitete in der Filiale der Firma Samsung. Seit 2008 ist er im Unternehmen SK Lubricants RUS LLC tätig, welches die Lieferung von ZIC-Schmiermitteln anbietet. Er ist Marketingdirektor und ist verantwortlich für die Business-Entwicklung in Russland, in den GUS-Ländern und in den Staaten Osteuropas.
Verheiratet und hat einen zweieinhalbjährigen Sohn.
— War das so schlimm für sie?
— Sie hatte einfach Angst um mich. Sie dachte, ich werde dort zum Kommunisten. Sie gehört eben zu einer älteren Generation, die in der Zeit des „Kalten Krieges“ aufgewachsen ist. Damals gehörte die UdSSR zu einem unserer Hauptfeinde. Korea hatte eine schwierige Situation im 20. Jahrhundert hinter sich: der Koreanische Krieg, die Teilung Koreas in Süd- und Nordkorea… Das Feindbild steckt immer noch fest in den Köpfen unserer Väter und Großväter.
— Was führte Sie nach Ihrer Studienzeit in Sankt Petersburg nach Moskau?
— In Sankt Petersburg studierte ich zunächst die russische Sprache, dann internationale Beziehungen. Ich mochte die Stadt sehr und hatte nichts dagegen, dort länger zu bleiben. Doch als ich angefangen habe, mir eine Arbeit in einer guten Firma zu suchen, wurde mir klar, dass fast alle koreanischen Firmen in Moskau sind. Letztendlich fand ich eine Einstellung in einer „Samsung“-Niederlassung in Moskau. Daher musste ich umziehen.
— Bereuen Sie diesen Schritt etwa?
— Ich lebe seit 2006 in der russischen Hauptstadt und fühle mich bereits wie ein Moskauer. Doch ich vergesse auch Sankt Petersburg nicht und besuche etwa zweimal im Jahr meine dort lebenden Freunde.
— Haben Sie dort viele Freunde?
— Ja, aber nicht nur dort. Meine Kommilitonen in der Universität kamen aus verschiedenen Regionen Russlands. Ich versuche, sie alle zu besuchen.
— Wo sind Sie schon gewesen?
— In Wolgograd, auf der Insel Kischi, am Baikalsee, in Kalmykien und sogar auf der Halbinsel Kamtschatka und auf der Insel Sachalin. Nach Wladiwostok fuhr ich von Moskau aus mit dem Zug.
— Haben Sie sich anders gefühlt, als Sie von Sankt Petersburg nach Moskau kamen? Haben Sie dabei einen Unterschied gemerkt?
— Die Größe der Stadt! Moskau ist im Vergleich zu Seoul eine Megapolis. Wir haben keine solchen breiten Straßen wie hier. Und auch in Sankt Petersburg liegt alles nah beieinander, man kann alles zu Fuß erreichen. Und in Moskau schafft man zu Fuß nicht so viel, obwohl ich durchaus gern laufe. Die Leute bewegen sich hier auch dreifach so schnell als anderswo. Man beeilt sich immer. Der Rhythmus der Stadt ist einfach anders.
Aber das Erste, was mich beeindruckt hat, war die Tatsache, dass wir es vom Flughafen Moskau-Scheremetjewo bis zum Dritten Verkehrsring ganz ohne Ampel-Stopps geschafft haben.
— Inwieweit unterscheiden sich die Lebens- und Arbeitseinstellungen in Russland und in Korea voneinander?
— Wir sind an unterschiedliche Standards gewöhnt. Zum Beispiel in Bezug auf die Bildung. Wir folgen dabei den amerikanischen Standards: Für uns ist nicht nur die Theorie, sondern auch ihre praktische Anwendung wichtig. Die Hauptfrage ist dabei nicht „Weshalb ist es so?“, sondern „Wie wendet man eine bestimmte Theorie, eine Entdeckung oder eine Entwicklung an, die bereits von den anderen ausgearbeitet wurde?“. Es geht dabei ganz pragmatisch zu.
In Russland ist die Bildung tiefgründiger. In Sankt Petersburg fing alles mit Theorie an. Zuerst schien mir das langweilig und überflüssig, aber heute verstehe ich, dass eine solche Herangehensweise auch ihren Sinn hat, weil sie einen erweiterten Blick auf die Dinge schafft.
— Sie fühlen sich selbst als Moskauer. Aber auch für einen Moskauer, bei all seiner Heimatliebe, ist nicht alles in dieser Stadt schön. Könnten Sie für eine Minute in die Rolle des Moskauer Bürgermeisters schlüpfen?
— Das ist ganz einfach! Wenn ich von meinen Freunden nach meinen Zukunftsplänen gefragt werde, antworte ich häufig aus Spaß: „Ich weiß es nicht, aber vielleicht werde ich mich um die Stelle des neuen Bürgermeisters in Moskau bewerben?“
— Dann wäre es ja tatsächlich an der Zeit, die Hauptpunkte Ihres Wahlprogramms bekannt zu machen. Was würden Sie in Moskau ändern, wenn Sie an der Macht wären?
— Na dann fange ich doch mal so an… Für Moskau sind ein langer Winter und ein regnerischer Herbst typisch. Und manchmal sieht die Stadt bei schlechtem Wetter ziemlich grau und trist aus. Allein die Häuser… Ich würde diese in buntere Farben hüllen. Dann würde alles ganz anders aussehen.
Als ich zum Beispiel nach Sankt Petersburg kam, feierte die Stadt gerade ihr 300-jähriges Jubiläum. Und anlässlich dieses wurden die Häuser auf dem Newski-Prospekt nicht nur neu, sondern originalgetreu bunt angestrichen. Es sah einfach großartig aus!
Was wäre da noch zu machen? Ich wohne ganz in der Nähe von unserem Büro in der Moskauer City. Und habe dabei jedes Mal große Schwierigkeiten mit dem Parken. Man sollte meiner Meinung nach mehr Wohnhäuser mit Tiefgaragen bauen. Diese sollten dabei nicht bloß einstöckig, sondern gleich zwei- bis dreistöckig sein. In Seoul haben die Gebäude häufig sechs- bis siebenstöckige Tiefgaragen. Es ist zwar teuer, doch auch sehr praktisch. Aber ich muss auch meinen potentiellen „Konkurrenten“, den aktuellen Bürgermeister Moskaus, lobend erwähnen. Moskau hat sich in den letzten Jahren deutlich zum Besseren verändert. Meine Frau und ich sind uns dabei einig. Es gibt hier viele Parks und Grünanlagen, wo man spazieren gehen und frische Luft schnappen kann. Der Gorki-Park und der Neskutschny-Garten, wo wir häufig unsere Wochenenden verbringen, wurden renoviert. Man kümmert sich auch verstärkt um den Ausbau von Fußgängerzonen.
— Sie haben den langen Moskauer Winter erwähnt. Wie kommen Sie selbst mit ihm zurecht?
— Ich habe mich an ihn gewöhnt. Die Sonne und damit auch das Vitamin D fehlen, man muss es zusätzlich zuführen.
— Koreaner gelten als Workaholics. Aber auch sie können nicht 24 Stunden lang durcharbeiten. Wie entspannen Sie sich in Moskau?
— Ich fahre Ski und Snowboard. In Moskau gibt es viele künstliche Berge, die man abfahren kann. Aber am liebsten mache ich Spaziergänge durch die Stadt. Meine Frau liebt es über alles, mit unserem Kind oder mit der ganzen Familie spazieren zu gehen.
Unsere Wohnung befindet sich in der Nähe der Uferpromenade des Moskwa-Flusses und des Krasnaja-Presnja-Parks. Das ist eine tolle Grünanlage. Hier finden viele Veranstaltungen und Kinderprogramme statt, und im Winter gibt es hier eine Eisbahn. Daher folgt unsere Familie einer typisch russischen Tradition: Man geht spazieren.
— Wieso halten Sie diese Tradition für „typisch russisch“?
— Weil für einen Koreaner das „Spazierengehen durch die Straßen“ ein rein literarischer Begriff ist. Wir haben diese Angewohnheit vor langer Zeit aufgegeben. WasbedeutetderAusdruck„Spazierengehen“? Hast du nichts zu tun? Oder hast du kein Geld? Man geht ja immer zielgerichtet aus: um Kaffee zu trinken, um Zeit in einer Bar zu verbringen, um zu Mittag zu essen oder um einzukaufen… Zu meinem russischen Kollegen kann ich ganz einfach sagen: „Wir haben über der Arbeit die Zeit vergessen, lass uns mal rausgehen und draußen alles besprechen“. Für einen Koreaner würde so ein Vorschlag etwas komisch klingen. Als meine Mutter uns zum ersten Mal in Moskau besuchte, meinte meine Frau zu ihr: „Lass uns mit dem Kleinen rausgehen!“. Und meine Mutter fragte: „Wie, hat man denn in Moskau sonst nichts zu tun? Gibt es hier überhaupt nichts?“
— Konnte Ihre Mutter letztendlich Ihre Wahlheimat Moskau akzeptieren?
— Nachdem ich mich in Moskau eingerichtet hatte, lud ich meine Mutter ein, uns zu besuchen. Ich habe mich auf ihren Besuch gründlich vorbereitet und mir überlegt, wo ich sie hinführen und was ich ihr zeigen könnte. Sie hat sich alles mit weit aufgerissenen Augen angeschaut und war von der Stadt nach drei Tagen völlig begeistert. Zum Schluss fragte sie, ob sie hier nicht noch länger bleiben könne.
— Lange Spaziergänge regen bekanntlich den Appetit an. Ich kenne mich nicht so gut mit koreanischen Restaurants in Moskau aus. Chinesische Restaurants sind mir da etwas vertrauter. Doch nach meinem Besuch in China wurde mir klar, dass man in Moskau nur schwer echte chinesische Küche erleben kann. Wie sieht es hier mit der koreanischen Küche aus?
— Na ja, Sushi in Moskau schmecken zum Beispiel so gar nicht nach Japan. Mit der koreanischen Küche sieht es schon anders aus. In Moskau gibt es insgesamt 15 koreanische Restaurants, die ihren Gästen in der Tat eine authentische koreanische Küche anbieten.
— Besuchen Sie diese Restaurants?
— Nur dann, wenn wir unsere Geschäftspartner zum Essen einladen. Sonst kocht meine Frau für mich zuhause koreanisch. Wenn wir ausgehen, bevorzuge ich eher eine europäische, russische oder ukrainische Küche. In letzter Zeit bevorzugt aber meine Frau die georgische Küche.
— Sie sprechen ein sehr gutes Russisch. Wie schwer ist es für einen Koreaner, Russisch zu lernen?
— Als ich Englisch gelernt habe, fand ich die Sprache unglaublich schwer. Aber als ich später Russisch lernte, wurde mir klar, dass Englisch eigentlich ganz einfach ist.
— Haben Sie Heimweh?
— Ich besuche Korea etwa zweimal im Jahr aus beruflichen Gründen. Erst vor Kurzem hat man mich in meiner Firma gefragt: „Wie fänden Sie es, wenn wir Sie in Moskau noch für ein Jahr behalten und dann in den Hauptsitz nach Korea versetzen?“
— Und wie haben Sie reagiert?
— Ich erzählte von dem Gespräch meiner Frau, und sie war gegen einen Umzug. Sie könnte sich eben vorstellen, hier etwas länger zu bleiben, so fünf bis sieben Jahre noch. Wir haben uns in Korea kennengelernt und haben dort auch unsere Hochzeit gefeiert. Vor drei Jahren kam sie nach Moskau. Und anfangs sagte sie immer wieder: „Lass uns hier nur ein paar Jahre bleiben und dann in unsere Heimat zurückkehren.“ Heute gefällt es ihr hier richtig gut. Und auch ich denke noch nicht über einen Umzug nach, ich möchte hier auch noch eine Weile bleiben.
— Was würden Sie, als ein alteingesessener Moskowiter, einem ausländischen Kollegen empfehlen, der darüber nachdenkt, nach Moskau umzuziehen, um hier zu arbeiten oder sein Business zu starten?
— In erster Linie sollte man seine zahlreichen Stereotypen in Bezug auf Russland verwerfen. Man sollte seinen Kopf freimachen und die Dinge so annehmen, wie sie sind. Dabei sollte man versuchen, andere Kulturen, die eventuell ganz anders als die eigene Kultur oder die eigenen Lebensstandards sind, zu verstehen. Man muss immer versuchen, den Standpunkt des anderen zu verstehen. Das hilft im Leben ungemein.