— Herr Harms, erlauben Sie uns bitte zuerst die Frage zu Ihrer Position als Sprecher des weltweiten Netzes von Auslandshandelskammern in Deutschland. Womit genau beschäftigen Sie sich in dieser Funktion?
— Die Unterstützung des deutschen Business im Ausland erfolgt mithilfe eines Netzes von bilateralen Auslandshandelskammern. Heute umfasst dieses 90 Länder weltweit. Das Netz ist selbstregulierend und selbststeuernd. In jeder Region der Welt wählt die dort agierende Handelskammer ihren eigenen Sprecher. Er fungiert als ihr offizieller Vertreter, der in ihrem Namen Fragen, die mit den Spezifika der jeweiligen Tätigkeiten der dort agierenden deutschen Unternehmen direkt zu tun haben, diskutiert und löst.
— Mit wem werden solche Fragen diskutiert?
— Mit den jeweiligen Behörden, Business-Vereinigungen und anderen Organisationen Deutschlands. Die regionalen Vertreter wählen ihrerseits ihren Sprecher, der die Befugnis besitzt, im Namen aller Auslandshandelskammern zu agieren und ihre Interessen in Deutschland zu vertreten.
— Das heißt, dass nur Sie die allgemeinen Probleme der Auslandshandelskammern mit Angela Merkel besprechen dürfen?
Michael Harms. Geboren 1964 in Dresden. Absolvierte 1991 das MGIMO (Das Staatliche Moskauer Institut für Internationale Beziehungen), später die Freie Universität in Berlin. Begann seine berufliche Tätigkeit bei Philips Medical Systems als Vertriebsmanager in Hamburg und in Moskau. Arbeitete im Büro für die Kooperation der deutschen Wirtschaft in Berlin, wurde 2000 Vorstandsmitglied des Ost-Ausschusses deutscher Wirtschaft. War in den Jahren 2001 bis 2003 Exekutiv-Sekretär des Beratungsausschusses für unternehmerische Tätigkeit im Rahmen des Stabilisierungspaktes für Süd-Ost-Europa in Brüssel. Ist seit 2007 Leiter der Vertretung deutscher Wirtschaft in der Russischen Föderation und Vorstand der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. Fungiert seit 2012 als Sprecher eines weltweiten Netzes der Auslandshandelskammern Deutschlands.
— Das klingt vermutlich zu rigoros. Aber ich bin derjenige, der mit unserem Wirtschaftsminister Fragen bezüglich der Tätigkeit des Auslandshandelskammer-Netzes bespricht.
— Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer hat heute 848 russische und deutsche Mitglieder. In welchem Verhältnis?
— 70% der Handelskammer-Mitglieder sind deutsche Firmen, 20% sind russisch und die restlichen 10% sind ausländische Firmen. Dieses Verhältnis ist aber zu relativieren: Viele Unternehmen mit deutschem Kapital in Russland sind als russische juristische Personen registriert.
— Wie entwickelt sich die Mitglieder-Zahl in letzter Zeit: Wird sie größer oder eher kleiner?
— In den letzten Jahren sind wir ganz gut gewachsen. Aber ich glaube, dass sich die Mitgliederzahl demnächst etwas verringern wird. Aber nicht wegen der wenigen Firmen, die den russischen Markt verlassen. Über 90% unserer Mitglieder führen kleine und mittelständische Unternehmen. Und heute müssen sie jeden Cent noch einmal umdrehen. Manche sagen da ganz direkt: „Es tut uns leid, wir schätzen Ihre Arbeit sehr, aber wir müssen bei allem sparen, auch bei unseren Mitgliedsbeiträgen.“
— Wie viele deutsche Unternehmen agieren heute in Russland?
— Wie viele von ihnen haben sich in Moskau niedergelassen?
— Moskau ist da absolut führend: In der Hauptstadt befinden sich über 3.000 deutsche Firmen. Ca. 760 Firmen gibt es in Sankt Petersburg, der Rest befindet sich in anderen Regionen Russland.
— Sie kamen zum ersten Mal nach Russland während der Perestroika-Zeit und haben faktisch alle Entwicklungsperioden der russischen Wirtschaft beobachten können. Was glauben Sie: Ist heute die schwierigste Zeit für das deutsche Business in Russland, oder gab es schon schlimmere Zeiten?
— Es gab schon schlimmere Zeiten, zum Beispiel in den 1990er Jahren. Wenn man von den politischen Geschehnissen absieht, handelt es sich heute um eine ganz normale Konjunktur-Krise, die u.a. mit dem Verfall der Öl- und anderer Preise zu tun hat. In einer anderen Situation würden die Menschen eine solche Krise ganz gut überstehen können. Wir glauben fest daran und erzählen auch allen, dass sich in den letzten Jahren die Bedingungen für eine Business-Führung in Russland beträchtlich verbessert haben. Hier schätzt man die Waren aus Deutschland, wir haben sehr enge Kontakte und viele gemeinsame Projekte. Die politische Lage ist dabei natürlich etwas störend, weil sie Unbestimmtheit und Unsicherheit mit sich bringt.
— Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland sank der Warenumsatz Russlands und Deutschlands 2014 um 11,7%. Sind daran die Sanktionen schuld?
Die Entscheidung über die Gründung der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer ist im April 2006 im Rahmen des russisch-deutschen bilateralen Gipfeltreffens entsprechend der Vereinbarungen zwischen dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, gefallen.
Am 5. Dezember 2007 wurde die Union der Deutschen Wirtschaft in der RF entsprechend der Entscheidung der Unionsmitglieder-Versammlung in die bilaterale Vereinigung Deutsch-Russische Auslandshandelskammer (AHK) umgewandelt. Die offizielle Eröffnung der Handelskammer fand am 14. Dezember 2007 in Moskau statt.
Mitglied der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer können alle deutsche Unternehmen werden, die daran interessiert sind, enge ökonomische Beziehungen mit Russland zu knüpfen, sowie alle russische Firmen, die nach einem Zugang zum deutschen Markt suchen. Im Moment zählt die AHK 848 Unternehmen zu ihren Mitgliedern, von denen 90% kleine und mittelständische Unternehmen sind. Die Handelskammer wird durch die Mitgliedsbeiträge finanziert.
Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer hat den Auftrag, den deutschen Unternehmen zu helfen (vor allem den kleinen und mittelständischen Unternehmen), Vertretungen in Russland zu eröffnen, gute Beziehungen zu den russischen Behörden zu pflegen, Geschäftsbeziehungen zwischen den deutschen und den russischen Unternehmen zu unterstützen sowie die Entwicklung neuer Projekte zu voranzutreiben.
Die AHK bietet den Unternehmen folgende Services an: Markforschung, Begleitung von Unternehmen bei allen ihren Schritten im Rahmen der Erschließung des deutschen oder russischen Marktes, Suche nach passenden Geschäftspartnern, Mitarbeitern und Territorien für ihre Businessentwicklung, Unterstützung bei der Unternehmensgründung sowie Weiterbildungsseminare.
Jedes Jahr bietet die AHK über 100 verschiedene Veranstaltungen für ihre Mitglieder an. Die AHK organisiert außerdem verschiedene Branchen-Komitees und Arbeitsgruppen.
Des Weiteren wird über die AHK kostenpflichtige Dienstleistungen (juristische Beratung, Organisation von Konferenzen, Reisen etc.) von den lokalen Vertretungen ihrer Tochterfiliale DEInternational, die weltweit in 80 Ländern fungiert, angeboten. In Moskau wird diese durch das 2004 gegründete „Informationszentrum der deutschen Wirtschaft“ vertreten.
— Das glaube ich nicht. Nach unseren Angaben nehmen die Sanktionen im Rahmen unserer Wirtschaftsbeziehungen anteilig etwa 20% von allen anderen Einflussfaktoren ein. Die Hauptgründe sind der Verfall des Ölpreises und der internationalen Konjunktur und die Rubel-Abwertung. Und natürlich die allgemein herrschende geopolitische Ungewissheit.
— Und wie hat sich in letzter Zeit das moralische Klima in Moskau und in den Regionen hinsichtlich der Handelskammer und der deutschen Unternehmen verändert?
— Da kann ich mich nicht beklagen… Die russischen Behörden verhalten sich uns gegenüber sehr freundlich. Sie schätzen uns und das deutsche Business. Sie versuchen, die Politik von unseren Beziehungen fernzuhalten. So sieht aber auch unsere Position aus. Deswegen befinden wir uns in einem sehr guten Dialog mit den regionalen, föderalen und den Moskauer Behörden. Allen ist die Bedeutung von internationalen Investitionen im Rahmen der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Entwicklung von Technologien und der Erhebung von Steuern bewusst.
Wichtig sind dabei in erster Linie aber nicht die Beziehungen, sondern das, was tatsächlich zur Verbesserung des Investitionsklimas gemacht wird. Es ist vermutlich nicht ganz richtig, Moskau mit den restlichen Regionen Russlands zu vergleichen. Unter diesen Regionen lassen sich aber schon einige Marktführer hervorheben. Es sind vor allem Kaluga, das Uljanowsker Gebiet und Tatarstan. Dort kümmert man sich am meisten um die Investoren. In diesen Regionen hat man eigene Entwicklungskorporationen abgeschlossen und Industrieparks gebaut. Man arbeitet dabei nach dem „Ein-Fenster-Prinzip“ (im Rahmen der Bürokratie-Minimierung).
— Vor ein paar Jahren haben Sie in einem Interview über das Investitionsklima in Russland Folgendes gesagt: „Das größte Problem in Russland ist die Ungewissheit. Man braucht exakte Regulierungsregeln, damit die Unternehmer zum Beispiel wissen, dass eine angenommene Norm zehn Jahre lang ihre Gültigkeit behält und damit sich die Investoren anpassen und bestimmte Strategien entwickeln können“. Wie würden Sie die Situation heute einschätzen? Wenn man die Politik außen vor lässt…
— Die Situation hat sich eindeutig gebessert. Die rechtliche Regulierung ist stabiler geworden. Das zeigen sowohl die internationalen Ratings als auch unsere eigene Praxis. Einige Probleme sind natürlich geblieben. Aber ich bin schon seit fast acht Jahren in Russland und kann behaupten, dass der Fortschritt bereits deutlich zu erkennen ist.
— Wie schwer ist es heute für einen ausländischen Unternehmer, sein mittelständisches Unternehmen in Moskau zu gründen?
1. Lernen Sie das Land kennen.
Man sollte nicht davon ausgehen, dass Arbeiten in Deutschland und Arbeiten in Russland ein und dasselbe ist. Jedes Land hat seine Besonderheiten.
2. Stellen Sie zu Ihren Geschäftspartnern auch persönliche Beziehungen her.
In Russland spielen gute Beziehungen mit den Menschen, mit denen man zusammen arbeitet, eine sehr wichtige Rolle.
3. Werden Sie Mitglied der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer.
Die Erfahrungen, welche Ihre Kollegen bereits gemacht haben, können auch für Sie ziemlich nützlich sein.
4. Studieren Sie den russischen Markt.
Es reicht nicht, nur einen Experten-Überblick und eine Experten-Einschätzung zu lesen. Um bestimmte Prozesse verstehen zu können, muss man diese mit eigenen Augen gesehen haben.
5. Kommen Sie hierher für längere Zeit.
Große Ergebnisse lassen sich nicht schnell erzielen. Man muss Geduld haben.
— Als erstes möchte ich sagen: Die „Probleme“ des ausländischen Business in Russland, wie sie so häufig im Westen beschrieben werden, sind, gelinde gesagt, übertrieben. Man sollte aber nicht übertreiben! Und das ist nicht nur meine persönliche Meinung: Ich treffe mich mit verschiedenen Experten, die sich sehr gut mit den Märkten weltweit auskennen und der gleichen Meinung sind. Wenn wir Russland zum Beispiel mit Holland vergleichen, sieht die russische Situation schlimmer aus. Aber im Vergleich zu den BRICS-Staaten wie Brasilien, Indien und China steht es um Russland gar nicht so schlecht. Es ist auch hier möglich, sein eigenes Unternehmen zu gründen und es erfolgreich und ohne Korruption zu führen. Die Mehrheit unserer Unternehmer arbeitet so.
Das Wichtigste ist dabei, den Markt, seine Nische und seinen Kunden zu finden und ihm das richtige Produkt anzubieten. Man muss den Kunden auch überzeugen, dass man ein zuverlässiger Geschäftspartner ist und dass die deutschen Waren etwas teurer, aber dafür auch besser sind. Dazu muss man Zeit und Erfahrung mitbringen. Aber das alles sind reine Marktschwierigkeiten. Eine eigene Firma zu gründen und die Unterstützung der jeweiligen Region zu bekommen, ist heute nicht mehr so schwer.
— Weshalb ist der russische Markt für den westlichen Investor so attraktiv? Was hat er zu bieten?
Außerdem ist der Rubel heute sehr günstig. Es ist schwierig geworden, aus der EU-Zone die Waren nach Russland zu exportieren, die Waren sind einfach teuer geworden. Aber man kann hier günstig eine Firma und ein Betriebsgrundstück kaufen. Wenn Sie Montageteile aus Russland haben, können Sie auch relativ günstig Ihre Produktionslinie starten. Dabei kann ein westlicher Hersteller bei seinen Waren die Kennzeichnung „Made in Russia“ anbringen. Im Rahmen einer Importersatz-Strategie bekommt so etwas viel Gewicht. Meiner Meinung nach sind es die zwei wichtigsten Stimuli für einen Investor, der vorhat, heute in Russland zu investieren.
— Und diese Art der Motivation funktioniert tatsächlich? Kennen Sie deutsche Firmen, die bereit sind, heute ihre Produktion in Russland zu starten?
— Ich möchte an dieser Stelle keine konkreten Namen nennen, weil die endgültigen Entscheidungen noch nicht getroffen worden sind. Aber es gibt durchaus ernst zu nehmende Projekte, die sich gerade noch in der Pipeline befinden. Leider sind es nicht mehr so viele wie früher. Diese Projekte werden aber auf Basis der bereits oben erwähnten Stimuli entwickelt.
— Könnten Sie uns einen deutschen Investor nennen, der in ein solches Projekt bereits investiert hat?
— Ende September wird in Uljanowsk ein Werk für die Produktion von sensiblen spanabhebenden Werkzeugmaschinen in Betrieb genommen. Dieses wurde von der deutschen Firma DMG-Mori Seiki errichtet. Das ist die erste wirklich große Investition in die Maschinenbau-Branche. Es geht dabei um mehrere Dutzend Millionen Euro.
— Das heißt trotz Krise würden Sie den Unternehmern, die zu Ihnen in die Handelskammer kommen, nicht raten, abzuwarten, bis die Krisenstürme vorbei sind, und in der russischen Wirtschaft wieder ein sonniges Wetter herrscht?
— Es kommt darauf an. Wenn jetzt zum Beispiel zu mir eine Firma mit der Idee kommen würde, in Russland ein großes Automontage-Werk zu eröffnen, dann würde ich vermutlich sagen: „Meine Herren, der Auto-Markt ist um 50% geschrumpft, daher sollten Sie ernsthaft überlegen, ob Sie den Schritt wirklich wagen möchten“.
Und wenn zu mir eine Firma kommt und erzählt, dass sie ihre Anlagen bis vor Kurzem erfolgreich an russische Unternehmen aus dem Erdöl- und Gas-Bereich verkauft hat, aber wegen eines plötzlichen Preisanstiegs ihre Kunden zu verlieren scheint, weil diese sich stärker in Richtung lokaler Hersteller orientieren, dann würde ich ihnen raten: „Investieren Sie, und lokalisieren Sie Ihre Produktion hier!“ Ich bin mir sicher, dass die Politik des Importersatzes eine längerfristige und ersthafte Sache ist. Und aus der Sicht der russischen Regierung ist diese Politik ganz richtig: Jedes Land wünscht sich, seine eigene Produktion zu steigern. Und wenn diese Politik Ihnen wirtschaftlich zusagt, macht es für Sie Sinn, Ihre Produktion hier zu lokalisieren.